- | Deutschland/Österreich 2001 | 65 Minuten

Regie: Valeska Grisebach

Bruchstückhafte Szenen aus dem Leben zweier Berliner Teenager, die nach ihrem eher emotionslosen Kennenlernen im Umfeld des Schulhofs ein Paar werden. Es gibt kleine Schwindeleien und große Übertreibungen, gespielte Ausbrüche und echte Bestürzungen, und zuletzt bleibt unklar, ob ihrer Beziehung eine Zukunft beschert ist. Dokumentarisch akzentuierter Spielfilm, der durch ein hohes Maß an Authentizität beeindruckt. Indem er seine "Helden" ernst nimmt, entfernt er sich meilenweit von den üblichen spekulativen Teenie-Filmen und erreicht im Spannungsfeld aus protokollarischer Beobachtung und Stilisierung eine außergewöhnliche authentische künstlerische Qualität. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MEIN STERN
Produktionsland
Deutschland/Österreich
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien/Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf"/ZDF/3sat
Regie
Valeska Grisebach
Buch
Valeska Grisebach
Kamera
Bernhard Keller
Schnitt
Anja Salomonowitz
Darsteller
Nicole Gläser (Nicole) · Christopher Schöps (Christopher) · Monique Gläser (Monique) · Jeanine Gläser (Jeanine) · Anika Jahn (Anika)
Länge
65 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Mit „Mein Stern“ gibt es einen deutschsprachigen Ausnahmefilm zu feiern. Wobei sich in die Begeisterung sofort Bedauern mischt, denn die hochsensible, dokumentarisch strenge Arbeit wird nicht im Kino zu sehen sein - um die Rechte für die wenigen Musikstücke einzuholen, fehlte der Low-Budget-Produktion das nötige Kleingeld. Viel passiert eigentlich nicht, es gibt keinen Plot im herkömmlichen Sinn: Nicole und Christopher, beide 15-jährig, lernen sich im Umfeld ihres Schulhofs kennen und beschließen, einander von nun an öfter zu sehen. Dies weniger aus emotionaler Überwältigung als aus der Einsicht, dass man dergleichen in ihrem Alter eben so tut. Da Nicoles Mutter auf Nachtschicht ist, bietet sich die Wohnung als Treffpunkt an. Die beiden jüngeren Schwestern beobachten die Situation in einer Mischung aus Neugierde und Neid, greifen auch schon mal durch kleine Indiskretionen ins komplizierte Geflecht ein. Es gibt zwischen den Teenagern Nicole und Christopher kleine Schwindeleien und große Übertreibungen, gespielte Ausbrüche und echte Bestürzungen. Zuletzt bleibt unklar, ob dem Paar eine Zukunft beschert ist oder nicht. Die beiden stehen sich gegenüber und werden in ihr imaginäres Leben jenseits des Films entlassen. Die Namen der Darsteller sind mit denen ihrer Rollen identisch, Nicoles kleine Schwestern im Film sind die von Nicole im „richtigen Leben“, und das Teenager-Paar Nicole/Christopher war tatsächlich für mehrere Wochen liiert. Die 1968 geborene Regisseurin ist Berlinerin, studierte in Wien und kehrte mit ihrem Diplomfilm quasi in ihre Heimat zurück. Mehr als 250 Jugendliche „ihres Kiezes“ in Berlin-Mitte interviewte sie für das Projekt, wählte ein halbes Dutzend Protagonisten aus und ließ sie in ihrer angestammten Umgebung agieren. Das erreichte Höchstmaß an Authentizität kompensiert die geringen Produktionskosten und verkörpert die höchste Tugend des Films. Was keine automatische Schlussfolgerung ist, denn die Regisseurin richtet die Kamera ja nicht einfach auf die vorgefundenen Kinderzimmer. Ihre Filmsprache stellt sich vielmehr als eine höchst stilisierte heraus, die gerade aus dem Widerspruch zum dokumentarischen Gestus Potenzen freisetzt. Stets vom Stativ aus gedreht, streng kadriert und farblich klar organisiert, erscheint ihre Ästhetik wie eine fiktionale Spiegelung der manieristischen Dokumentationen Ulrich Seidls. Wenn Seidl inszenierte Dokumentarfilme macht, ist Grisebachs Abschlussarbeit fiktive Dokumentation. Es gibt keine Musik aus dem Off, die spärlichen Handlungszusammenhänge werden konsequent „auf Lücke“ erzählt, spielen sich eher im Kopf des Zuschauers ab, als dass sie szenisch ausformuliert werden. Auch dass die Dialoge nicht immer bis ins Detail verständlich sind, tut dem Unterfangen keinen Abbruch, sondern fügt sich nahtlos ins Konzept ein. Der Film bezieht sehr genau Stellung, ohne auf exemplarische Gemeinplätze auszuweichen, wobei er mit dieser Haltung nie hausieren, sie nie polemisch ausstellt. Die „Helden“ sind weder herausragend schön noch hässlich, sie könnten rechten Gesinnungen nachhängen oder auch nicht, ihre Markenhörigkeit wird nicht fixiert, sondern einfach nur reflektiert; die Schauplätze ihres Handelns sind schlicht, noch aus DDR-Zeiten geprägt oder bestücken sich aus dem Arsenal billigster Möbel-Oasen. Diese jungen Menschen leben wie ihre Eltern in der momentan prosperierenden Mitte Berlins, gehören allerdings zur massiv bedrängten Spezies der Mittellosen, die durch Galerien, Feinkostgeschäfte oder an den prominenten Ort drängende Institutionen aus ihrem angestammten sozialen Umfeld verdrängt werden. Dies wird mit ganz sparsamen Mitteln erzählt, und dafür reicht schon eine statische Einstellung auf den Couchtisch der allein erziehenden Mutter. Großartig auch jene Situationen, die Schnittflächen zur Erwachsenenwelt bilden. Dem Bewerbungsgespräch Christophers oder dem Berufspraktikum Nicoles haftet eine geradezu Straubsche Qualität an. Auf touristische Perspektiven kann völlig verzichtet werden, die prominenten Schauplätze bleiben oft in der Unschärfe. Ohne Zweifel wird der immense dokumentarische Wert des Films zu angemessener Zeit seine Würdigung erfahren, vielleicht in ähnlichem Maße wie heute „Menschen am Sonntag“ (fd 34 559). Trotz des fast protokollarischen Herangehens verblüfft die Zärtlichkeit, mit der die Regisseurin ihre Figuren zeichnet. Einmal wird Nicole minutenlang beim selbstvergessenen Tanz gezeigt; hier entfaltet sich jenseits der banalen Musik ein selten gewordenes Maß an Schönheit und Nähe. Dabei hat die Regisseurin nichts anderes getan, als ihre „Helden“ ernst zu nehmen, und bewegt sich damit meilenweit entfernt von spekulativen Teenie-Filmen wie „Mädchen, Mädchen!“ (fd 34 779).
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