Kaum eine der klassischen Fabeln von Aesop läßt sich so wenig mit dem gegenwärtigen Zeitgeist vereinbaren wie jene von der Grille und der Ameise. Da hat erstere einen ganzen Sommer musiziert und wahrscheinlich etliche Hits landen können – doch was ist der Dank, als sie eine Ameise um eine Winterspende bittet? Natürlich war sie bei ihren Engagements kaum dazu gekommen, Nahrungsvorräte anzulegen. Die Antwort der Ameise ist rüde: Hat sie nicht den Sommer hindurch gesungen? Dann möge sie doch den Winter über tanzen. Die Zeiten, in denen Kulturschaffende nicht als ehrliche Werktätige angesehen wurden, sind glücklicherweise vorbei. Erstaunlich nur, daß gerade die Disney Company, die aus der Unterhaltung einen weltumspannenden Businesszweig entwickelt hat, ausgerechnet jene Fabel, nach der es diesen Berufsstand eigentlich gar nicht geben dürfte, zum Ausgangspunkt eines Animationsfilms nehmen wollte. Nun, man hat sie ein wenig modifizieren müssen. Zwar liegt die Sympathie immer noch bei den Ameisen; die harte Arbeit an der Unterhaltung erfährt jedoch eine gründliche Rehabilitation.In einer Ameisenkolonie herrscht die unselige Sitte, einem tyrannischen Grashüpfer alljährlich einen beträchtlichen Teil der Wintervorräte zu überlassen. Andernfalls droht dieser mit Hilfe seiner Artgenossen die Vernichtung an. Als freilich kurz vor dem Wintereinbruch die genialische, aber verschusselte Ameise Flik, deren individualistische Tüftlernatur sich dem Gruppenzwang erfolgreich entzieht, versehentlich die kollektiven Vorräte ins Wasser rollen läßt, weiß man nicht mehr ein noch aus. Lediglich als er vorschlägt, auf die Suche nach gefährlichen Kampfinsekten zu gehen, die man zu Schutzzwecken engagieren könnte, mag man ihm noch einmal Recht geben – verspricht dies doch, zumindest Flik ein für allemal los zu werden. Oder hätte man je gesehen, daß eine einzelne Ameise sich nicht hoffnungslos verirrt?Doch die erste Insektenschar, der Flik begegnet und die er nach einer zufällig beobachteten Kneipenschlägerei für einen verwegenen Haufen von Kraftprotzen hält, erweist sich bald als geradezu pazifistische Künstlertruppe. Die altmodischen, gerade aus ihrem Vertrag entlassenen Schausteller folgen der charismatischen Ameise dennoch gern in deren Kolonie. Allerdings hatte es Flik nicht für nötig gehalten, sie über ihre wahre Berufung aufzuklären. Der Begrüßungsapplaus jedenfalls ist erst einmal einladend genug. Durch Zufall gelingt es den Gästen sogar einmal, einen Vogel in die Flucht zu schlagen, was sie in Ameisenaugen endgültig zu prädestinierten Rettern werden läßt. Doch Lügen – wenigstens diese von Äsops Lehren gilt noch heute – haben nicht nur unter Ameisen kurze Beine. Der Schwindel fliegt in beider Richtung auf – mit dem Ergebnis, daß erst die Schausteller abreisen wollen, dann aber auch die Ameisen gegen Flik Verdacht schöpfen. Und doch wird man im brenzligen Augenblick des Besuchs der Grashüpfer keine andere Wahl haben, als auf einen von Fliks Plänen zurückzugreifen: ein von ihm konstruierter künstlicher Vogel soll zum Angriff ausfliegen.Spätestens seit die Medien ins Unterhaltungsgeschäft eingestiegen sind, seit Caruso die Schallplattenindustrie angekurbelt hat, weiß man, daß singende Grillen bezahlt werden wollen; und man tut es gern und freiwillig. Auch Elvis bekam seinen Tribut und mußte zur Landesverteidung trotz geleistetem Militärdienst nicht mehr herhalten. „Das große Krabbeln“ ist, selbst wenn der bitterböse Grashüpfer-Anführer „Hopper“ nach wie vor den Feind abgibt, eine Hommage an all die singenden Grillen dieser Erde. Wie in „Toy Story“
(fd 31 830), John Lasseters Pionierarbeit in Sachen Computeranimation, tun sie dies allerdings nicht mit den süßlichen Kehlen ihrer handgezeichneten Disney-Ahnen, sondern im rauhen, pessimistischen Tonfall des Songschreibers Randy Newman, der auch die Filmmusik komponierte. Wie ernst es Lasseter allerdings dabei ist, von seinen digitalen Helden, denen man ja prinzipiell bereits vorhersagte, dereinst gar als möglicher Ersatz für menschliche Leinwandlegenden einzuspringen, allen schauspielerischen Respekt einzufordern, zeigt sich erst im Nachspann: Mit den angeblichen „out takes“, die beginnen, wenn die meisten Zuschauer das Kino verlasssen haben dürften, beginnt der schönste Teil des Films: Wenn in verpatzten Szenen die computergenerierten Insekten ihren Text vermasseln oder manchen Stunt in den Sand setzen, kann man sie wirklich für menschlich halten. Wie im Falle von „Armageddon“
(fd 33 238) ist dem Disney-Studio auch bei „Das große Krabbeln“ ein schnell aus dem Hut gezaubertes Konkurrenzprodukt aus dem Hause „DreamWorks“ zuvorgekommen. Auch wenn „Antz“
(fd 33 404) mit seiner Maskierung bekannter Hollywoodstars wie Woody Allen ebenfalls großen Spaß machen konnte, ist „Das große Krabbeln“ dem „DreamWork“-Produkt an Eigenständligkeit, künstlerischer Stringenz, an Erzählkultur und technischer Innovationskraft haushoch überlegen. Denn wenn sich diese 3-D-animierten Figuren tatsächlich gegen reale wie handgezeichnete Darsteller behaupten können, so liegt dies eben nicht in der einseitigen Nachahmung von menschlicher Leinwandpräsenz. Lasseter erzählt seine simple Geschichte auf der Höhe all dessen, was das reale Hollywood auszeichnet: Der Reiz verbraucht sich nicht allmählich wie bei „Antz“, sondern erfährt ein dramaturgisches Crescendo, das mit den hinreißenden Schlußszenen tatsächlich im Furioso endet. Und während man sich bei DreamWorks zur Ästhetik des Sujets wenig mehr einfallen hat lassen, als daß es im Ameisenhaufen eher bräunlich und dunkel zugeht, besticht „Das große Krabbeln“ mit einer in dieser Technik bislang ungesehenen Lichtgestaltung. Die Farben sind gleichermaßen sommerlich zart wie leuchtend und tief – gerade so, wie man sich das durch Grashalme und Blüten gefilterte Licht in Zentimeterhöhe vorstellen mag. Max und Dave Fleischer hatten dies einmal bei ihrem wunderbaren Insektenfilm „Mr. Bug Goes to Town“ erreicht, einem Trickfilmklassiker der 40er Jahre. Wie schön, daß man sich dem „Käferleben“ (wie die Übersetzung des Originaltitels lautet) noch einmal derart nahe fühlen kann.