Das Leben ist ein Chanson

- | Frankreich/Schweiz/Großbritannien 1997 | 122 Minuten

Regie: Alain Resnais

Eine frustrierte Geschäftsfrau, deren Mann sie verlassen will, ihre studierende Schwester, die sich irrtümlich in einen unehrenhaften jungen Makler verliebt, während dessen ältlicher Angestellter sie heimlich liebt, und ein eingebildeter Kranker bilden einen Reigen gelebter (Lebens-)Lügen, verborgener Gefühle und mühsam vorgehaltener Masken. Nur wenn sie unvermittelt anfangen, ihre Dialoge durch einen Schlager-Refrain singend zu unterbrechen, treten ihre wahren Sehnsüchte zutage. Mit dem Kunstgriff, einige Takte aus Chansons und Popsongs lippensynchron von den Schauspielern "singen" zu lassen, wird das Alltägliche überhöht und dringt mit spielerischer Leichtigkeit dennoch in die Tiefe der Figuren ein. Das von einem spielfreudigen Ensemble getragene "Experiment" wird so zu einem amüsanten Exkurs über die zu Lebensweisheiten erhobenen Binsenwahrheiten von Schlagertexten. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ON CONNAIT LA CHANSON
Produktionsland
Frankreich/Schweiz/Großbritannien
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Arena/Camera One/France 2 Cinema/Vega/Greenpoint mit Canal +/Cofimage 9/Sofineurope/Alia/SSR/Eurepean Coproduction Fund
Regie
Alain Resnais
Buch
Agnès Jaoui · Jean-Pierre Bacri
Kamera
Renato Berta
Musik
Bruno Fontaine
Schnitt
Hervé de Luze
Darsteller
Pierre Arditi (Claude) · Sabine Azéma (Odile Lalande) · Jean-Pierre Bacri (Nicolas) · André Dussollier (Simon) · Agnès Jaoui (Camille Lalande)
Länge
122 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Odile, erfolgreiche Pariser Geschäftsfrau Mitte Vierzig, ist auf Wohnungssuche. Sie möchte ihre Altbauwohnung gegen ein schickes Penthouse tauschen. Ihr Mann Claude, der sich von ihr wegen einer jüngeren Frau trennen will, teilt nur sehr verhalten ihren Enthusiasmus. Deshalb nimmt Odile ihre jüngere Schwester Camille, die gerade ihre Doktorarbeit zum Thema „Die Freisassen am See Paladru im Jahre 1000“ schreibt, mit zur Besichtigung, und Camille verliebt sich in den Makler Marc, einen attraktiven und anscheinend auch sensiblen Yuppie. Aber auch Marcs Angestellter Simon, ein Alt-68er, der ein Doppelleben zwischen Geldverdienen und Selbstverwirklichung führt, ist in Camille verliebt. Aus Angst, abgewiesen zu werden, traut er sich nicht, ihr seine Gefühle zu offenbaren und beläßt es bei freundschaftlichen Treffen. Einen Zuhörer für seine Nöte findet er in seinem Kunden Nicolas, einem früheren Geliebten von Odile, der sich auch in einer Lebenskrise befindet. Nicolas sucht Arbeit und Wohnung in Paris, möchte aber eigentlich seine Familie gar nicht nachkommen lassen und zieht als „eingebildeter Kranker“ von einem Arzt zum anderen. Natürlich kreuzen sich die Wege dieser Personen ständig, bis es bei der Einweihung der neuen Wohnung zum „reinigenden Gewitter“ kommt: Marc entpuppt sich als Schwindler, Camille erkennt ihre Liebe zu Simon, Claude bringt es nicht übers Herz, sich von Odile zu trennen, und Nicolas scheint in Simon einen Freund fürs Leben gefunden zu haben.

Eine typisch französische Komödie im schicken Ambiente über wohlhabende Leute und ihre Midlife-crisis, denkt man im ersten Augenblick. Dann aber fangen die Personen plötzlich an zu singen, nur ein paar Takte oder den Refrain aus einem klassischen Chanson oder einem französischen Popsong. Sie singen nicht mit der eigenen Stimme, sondern mit der des eingespielten Original-Interpreten, und da die „Liedfetzen“ immer auf die jeweilige Situation oder die Gefühlslage der Protagonisten abgestimmt sind, ergibt es sich auch schon einmal, daß Simon mit einer Frauen- und Odile mit einer Männerstimme singt. Spätestens da wird deutlich, daß Alain Resnais keine Erneuerung des französischen Filmmusicals à la Jacques Demy („Die Regenschirme von Cherbourg“, fd 30 511) im Sinn hatte und auch nicht versucht, einen Beziehungsfilm mit Musical-Elementen im Stil von Woody Allens „Alle sagen: I Love You“ (fd 32 694) aufzupeppen. Deshalb wird auch nicht getanzt, nicht einmal ansatzweise geraten seine Figuren in tänzerische Bewegungen, sie scheinen manchmal gar nicht wahrzunehmen, daß ihr Gegenüber singt. Der Schlagertext wird so zu einem sprichwortähnlichen Einwand (oder Kommentar), der einem immer dann einfällt, wenn einem nichts mehr einfällt. Das Prinzip, durch Reproduktion Klischees überdeutlich zutage treten zu lassen, war Resnais schon mit der Verfilmung des Theater-Melodrams „Mélo“ (fd 26 644) gelungen. Nun geht er noch einen Schritt weiter und erhöht die Gemeinplätze und Binsenweisheiten des Schlagers zur Kunstform. Ein wenig hat er das bei dem von ihm verehrten englischen Autor Dennis Potter („Der singende Detektiv“), dessen Figuren auch unvermittelt zu zeitgenössischen Liedern synchron die Lippen bewegen. Aber während bei Potter schwarzer Humor und sarkastische Gesellschaftskritik Triebfedern der Handlung sind, sind es bei Resnais die alltäglichen Situationen und die (verborgenen) Gefühle der Figuren. „Parole, Parole“, schmettert Claude Odile im Ehestreit mit der Stimme Alain Delons entgegen, während er ansonsten eher ein „Leisetreter“ ist. Simon, der gerade Camille auf einer Stadtführung begleitete, läßt versonnen und sehnsüchtig Gilbert Becauds „Natalie“ erklingen: „Der rote Platz war leer, und vor mir ging Natalie.“ Und wenn Marc Jacques Dutroncs „J’aime les filles“ erklingen läßt, dann weiß man sofort, daß hinter dem vermeintlich so Sensiblen, in das sich Camille verliebt hat, ein ausgemachter Macho steht.

So führt Resnais mit leichter Hand mitten hinein in die Dauerkrise der 90er Jahre, in der Menschen ständig bemüht sind, einen Erfolg vorzutäuschen, den sie nicht haben. Durch die Schlager-Zitate, die einerseits ihre Gefühle auf den Punkt bringen, andererseits aber auch von einer Verarmung der Sprache zeugen, reißt er seinen Lebenslügnern die Maske herunter. Daß sie darunter (bis auf den Immobilien-Hai) nicht weniger sympathisch sind, liegt an der „Zärtlichkeit“, mit der Resnais seine Figuren betrachtet, und an den wundervollen Schauspielern, die sie interpretieren. Endlich kann man auch das Spiel jener beiden großartigen Autoren bewundern, die schon mit „Smoking“/„No Smoking“ (fd 31 016) ein Juwel bescherten: Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri. Und André Dussolier, der einfühlsam den vom Leben der 70er Jahre träumenden Simon spielt, entwickelt sich zu einem der profiliertesten französischen Filmschauspieler, der zu Ikonen wie Philippe Noiret, Michel Serrault und Michel Piccoli aufschließt. Dabei dominiert er nie die Szene, paßt sich nahtlos in das von Resnais „gleichwertig“ geführte Ensemble ein. Mit derselben Unaufdringlichkeit gibt Renato Berta eine weitere Kostprobe seiner „klaren“ Kameraarbeit, die ganz der Inszenierung und den Schauspielern verpflichtet ist, aber dennoch – wie bei Odiles rotem Kostüm – prägnante Farbtupfer setzt. In Frankreich war „Das Leben ist ein Chanson“ 1997 der erfolgreichste einheimische Film. Hierzulande wird er es wohl leider schwer haben: Die filmische Leichtigkeit, mit der unser westlicher Nachbar auch in die Tiefe zu loten versteht, scheint hierzulande immer noch fremder als die alles zudeckende Lautstärke der Hollywood-Erfolge. Dabei ist die Liebe als „Kehrreim“ eigentlich viel amüsanter und wirklichkeitsnaher als ein aufwendiges Weltuntergangsspektakel wie „Titanic“, das die Herzen nur oberflächlich berührt und sich nicht wie ein Chanson in ihnen einnistet.
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