Reisen ins Leben - Weiterleben nach einer Kindheit in Auschwitz

Dokumentarfilm | Deutschland 1996 | 130 Minuten

Regie: Thomas Mitscherlich

Dokumentation über drei Menschen, die als Kinder die Hölle Auschwitz überlebt haben. Ohne aufgesetzten didaktischen Anspruch gelingt es Thomas Mitscherlich, die Ahnung individueller Verletzungen und Abgründe an Hand dreier konkreter Schicksale zu vermitteln. Die protokollarischen Erlebnisberichte werden flankiert von weithin unbekannten Aufnahmen, die 1945/46 im Westen Deutschlands entstanden. Auf sensible Weise gelingt so ein lebendiges Zeitbild, das weit über die bloßen historischen Geschehnisse hinauswirkt. - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Bremer Institut für Film Fernsehen
Regie
Thomas Mitscherlich
Buch
Thomas Mitscherlich
Kamera
Bernd Fiedler
Musik
Jens-Peter Ostendorf
Schnitt
Margot Neubert-Maric
Darsteller
Gerhard Durlacher · Yehuda Bacon · Ruth Klüger
Länge
130 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Das Unbeschreibliche zu beschreiben -ein elementarer Antrieb des Filmemachens schlechthin. Angesichts konkreter historischer Umstände relativiert sich dieses Unterfangen; bei einem Kolossalthema wie dem Holocaust gar bricht jeder spielerische Ansatz des Herangehens endgültig weg. Thomas Mitscherlich stellt sich dieser Konstellation, nimmt sie mit testamentarischer Verantwortung war, ohne jedoch eine didaktische Perspektive einzunehmen. Nach seinem Spielfilm "Die Denunziantin" (fd 30 196), der den Individualcharakter einer ganz normalen deutschen Mitläuferin sondierte, begibt er sich mit "Reisen ins Leben" mitten hinein in das Auge des Taifuns, porträtiert drei Menschen, die die Hölle überlebt haben. Er versucht sehr behutsam, die Ahnung eines makabren Paradoxons zu vermitteln: das von der Kindheit in Auschwitz.

Gerhard Dulacher (geb. 1928) war 1937 aus Baden-Baden kommend mit seinen Eltern nach Holland emigriert, wurde 1942 nach Theresienstadt verbracht, von dort aus nach Auschwitz deportiert. Er starb im Juli 1996 kurz nach den Dreharbeiten in Haarlem/Niederlande. Yehuda Bacon (geb. 1929) stammt aus Ostrava/Böhmen, geriet 1943 nach Auschwitz, überlebte und wanderte 1946 nach Palästina/Israel aus. Ruth Klüger schlie|ßlich (geb. 1931) war gerade einmal 12 Jahre alt, als sie ihrer physischen Vernichtung zugestellt wurde - 16jährig überlebte sie, reiste aus in die USA, wo sie heute als Literaturwissenschaftlerin und Autorin lebt. Drei Schicksale, gezeichnet vom Privileg des Überlebens. Als Subtext der Gespräche vermittelt sich dabei stets die Angst vor der Angst, an jene "letzten Dinge" zu rühren, von denen der "Alltag" im Vernichtungslager geprägt war. Tod durch Bestrafung, Tod im Krankenblock, Tod im Elektrozaun; schließlich der Inbegriff des massenharten, mechanistischen Todes - die Gaskammer. Wobei der Tod an sich gar nicht mehr als grausame Apotheose empfunden werden konnte - zu massiv waren die vorangehenden Demütigungen und seelischen Verletzungen. Eine Reihe von Erlebnisberichten zeugt von dieser tiefgreifenden Umwertung aller Werte, legt Einblicke in Erfahrungen frei, die in ihrer Drastik und Endgültigkeit von keiner literarischen oder filmischen Fiktion erreicht werden können. So führt Yehuda Bacon im Gespräch mit Mitscherlich aus, daß sämtliche Insassen des "Familienlagers" nach einem halbjährigen Aufenthalt in Auschwitz vergast wurden - jeder der Betroffenen wußte das. Beim Abschied am Stacheldrahtzaun warfen sich die Kinder scherzhafte Bemerkungen wie "Wir sehen uns ja bald wieder!" zu. Bacon überlebte durch eine organisatorische Unregelmäßigkeit der SS. Dieses Überleben kann als Auftrag, Geschenk und individuell sogar als Strafe verstanden werden. In jedem Fall bedeutet es eine jede Vorstellung übersteigende Bürde. In den Gesprächen mit Dulacher, Bacon und Klüger kommen immer wieder Begriffe wie "die Mauer", "der Vorhang" oder "das Loch im Eis" ins Spiel - Synonyme für das Unbeschreibliche schlechthin. Daß hier die Instrumentarien der Psychoanalyse versagen, beweisen z. B. die Schicksale von Primo Levy, Paul Celan und Jean Améry. Obwohl diese in ihren künstlerischen und theoretischen Werken immer wieder das Thema umkreist haben, bestand ihre Konsequenz aus dieser Fixierung nicht in sogenannter Heilung, sondern formulierte sich im Selbstmord.

Anders als Claude Lanzmann beispielsweise beläßt Thomas Mitscherlich die mit starrer Kamera aufgezeichneten Augenzeugenberichte nicht als alleiniges gestalterisches Moment. Er kombiniert sie mit selten gezeigten Aufnahmen amerikanischer Frontkameramänner, die unmittelbar zu Kriegsende in westlichen Konzentrationslagern gemacht worden sind. Als dramatisches Vehikel installiert er zusätzlich die fiktive Person des Sergeant Mayflower (man beachte die Namensmetaphorik), dem diese befremdlichen, meist in Farbe entstandenen Dokumente zugeschrieben werden. Seine Bewegung im Troß der U.S.-Army von West nach Ost ist ein Bewegungsimpuls, der wiederum Teil unzähliger Einzelbewegungen ist. Mitteleuropa allgemein und Deutschland speziell erweist sich in den Jahren 1945/46 als ungeheurer Hexenkessel gegenläufiger bzw. durcheinander quirlender Menschenmassen: entlassene Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter auf dem Weg in die Heimat, deutschstämmige Flüchtlinge aus Schlesien, Pommern, dem Sudetenland usw., untertauchende Nazibonzen, auch Vagabunden und Kleinkriminelle, geschlagene und siegreiche Armeen... Mittendrin einige Hunderttausend sogenannte "displaced persons" -meist jüdische Menschen, der Vernichtung gerade noch entgangen, aber ohne Heim und Ziel. Im Falle Ruth Klügers kristallisiert sich das hochgradig Chaotische der Situation: mit einigen Leidensgenossinnen war ihr die Flucht aus einem "Todesmarsch" heraus geglückt. Es gelang ihr, in einem aus dem Osten kommenden Flüchtlingstreck deutscher Zivilisten unterzutauchen; sie erlebte nun die letzten Tage des Nationalsozialismus inmitten des "Tätervolkes".

Mitscherlich findet im Motiv der ungerichteten Bewegung eine wirksame Metapher für die Suche nach einer Utopie, für die Sehnsucht nach Heimat an sich - so wie die Passagiere der "Mayflower" auf der Reise in die "Neue Welt" wahrscheinlich mehr von vagen Ahnungen als von konkreten Vorstellungen getrieben waren. Zugleich richtet er den Blick konsequent nach innen; maßt sich nicht an, Antworten geben zu können. Ob in Deutschland, Holland, Israel oder den USA: die Landschaften und Straßenzüge hinter den Scheiben bleiben stumm. Sergeant Mayflowers Suche nach einem Dorf namens Ohrdruf in der Nähe von Gotha ist zwar erfolgreich, erschöpft sich aber im Anblick eines wüsten Ackers. Panzereinheiten der Reichswehr, der Wehrmacht, der Sowjetarmee, der Nationalen Volksarmee und heute der Bundeswehr haben das Areal immer wieder durchpflügt - daß hier ein vergessenes KZ existierte, wo in den letzten Kriegstagen 1945 noch mehrere 1000 Menschen getötet worden sind, davon zeugt heute kein sichtbares Zeichen.
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