Die Jüdin und der Hauptmann - Eine Liebe in Minsk

Dokumentarfilm | Deutschland 1994 | 92 Minuten

Regie: Ulf von Mechow

Das Schicksal der deutschen Jüdin Ilse Stein, die durch die Liebe eines deutschen Wehrmachtsoffiziers vor dem sicheren Tod im Konzentrationslager gerettet wurde. Ein auf Erinnerungen und Zeitdokumenten basierender Dokumentarfilm, der nicht nur die abenteuerlichen Umstände eines außergewöhnlichen Überlebens schildert, sondern auch einen lebenslangen Leidensweg, der sich nach den Jahren des Nazi-Terrors in sowjetischen Lagern fortsetzte. Ein Film wider das Vergessen, dessen authentische Geschichte das Grauen beschwört, das Teil deutscher Geschichte geworden ist, der aber auch von Hoffnung auf Menschlichkeit zeugt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
films etc./Hessischer Rundfunk
Regie
Ulf von Mechow
Buch
Ulf von Mechow
Kamera
Reinhard Burgheim
Musik
Manfred Becker
Schnitt
Heike Fischer
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Dies ist ein Film mit einer schier unglaublichen Geschichte, die "Schindlers Liste" (fd 30 663) in nichts nachsteht. Vielleicht wird sogar einmal ein Spielfilm über das Schicksal der deutschen Jüdin Ilse Stein und die Liebe eines Wehrmachtsoffiziers zu ihr im Ghetto von Minsk gedreht werden. Ob ein fiktonaler Film mit seinen dramaturgischen Zwängen allerdings den alles andere als linearen Lebensumständen Ilse Steins gerecht würde, ist fraglich. Fest steht, daß "Die Jüdin und der Hauptmann" ein ungewöhnlich spannender und bewegender Dokumentarfilm ist. Seine Stärke ist, daß er seiner Geschichte vertraut, daß er auf das Erzählerische setzt, insbesondere durch Rekonstruktion der Handlung und durch ungewöhnliche Bild- und Filmdokumente aus russischen Archiven. Ulf von Mechows Film ist kein Thesenfilm und auch kein analytischer Dokumentarfilm, obgleich man durch ihn erstmalig viel über die Vernichtung deutscher und russischer Juden durch die Nationalsozialisten in Weißrußland erfährt - ein Thema, das übrigens auch in Minsk erst seit dem Ende des Kommunismus öffentlich behandelt wird. Ulf von Mechow erzählt schlicht und unspektakulär mit den Mitteln des Dokumentarfilms eine Lebensgeschichte - und beweist damit nebenbei, daß die auf Interviews mit Zeitzeugen aufbauende Form des Dokumentarfilms noch längst nicht ausgedient hat.

Der Autor hatte das große Glück, dank einem Radioreporter auf das Schicksal von Ilse Stein aufmerksam zu werden und mit der damals knapp Siebzigjährigen und weiteren Zeitzeugen Interviews führen zu können. Ilse Stein kehrt in diesem Film an die zentralen Orte ihrer Gefangenschaft und Flucht nach Minsk zurück. Vor Fertigstellung des Films starb sie. Die Filmtöne und - bilder werden so zu ihrem Vermächtnis. Ilse Steins Leben kann nicht kurz erzählt werden, es bedarf schon 92 Filmminuten, und selbst so bleiben große Teile ihres Lebens - mindestens 45 Jahre zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende des Kommunismus - im dunkeln.

Der entscheidende Wendepunkt im Leben von Ilse Stein fand im Kriegsjahr 1942 statt. Eigentlich wäre das Leben der Achtzehnjährigen kurz nach ihrer Deportierung aus Frankfurt/Main in Minsk wie das ihrer Familienmitglieder und von Millionen anderer Juden zu Ende gewesen. Doch das Auge eines Offiziers der Luftwaffe, Verwalter des Nachschublagers beim Luftgau-Kommando Minsk, fiel auf die außerordentlich schöne junge Frau. Willi Schulz machte sie zur Kolonnenführerin. Seine Liebe zu Ilse Stein veränderte das ganze Wesen des bereits älteren, in Deutschland verheirateten Offiziers. Ilses weißrussische Freundin Lisa aus der Kolonne, die von Mechow ebenfalls befragte, erinnert sich, daß Schulz seinen Gefangenen gegenüber offen und freundlich geworden sei. Als er erfuhr, daß ein weiteres Pogrom gegen die Ghettobewohner geplant war, dem alle Juden zum Opfer fallen sollten, setzte Schulz einen tollkühnen Plan in die Tat um: Er beging Fahnenflucht und erreichte unter Lebensgefahr mit einem mit 25 deutschen und weißrussischen Juden und Jüdinnen vollbesetzten Lastwagen die Linien der weißrussischen Partisanen. Diese Flucht rekonstruiert der Film, indem er Ilse und Lisa in einem gelben Lieferwagen den Weg noch einmal abfahren läßt, den sie damals im Krieg genommen hatten.

Erinnerung, Rekonstruktion und Filmdokumente sowohl von der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in Weißrußland als auch von heimlich aufgenommenen Filmaufnahmen von den Partisanenlagern sind miteinander verschränkt. Dabei werden keine Szenen regelrecht nachgestellt. Die beiden älteren Frauen lassen sich jedoch mit den authentischen Orten ihrer Gefangenschaft und Flucht konfrontieren. Für die Zuschauer ergibt sich so die Möglichkeit, sich die abenteuerlichen Vorfälle der Kriegsjahre 1942 und 1943 vorzustellen - sie also wie in einem imaginären Spielfilm im Kopf ablaufen zu lassen (und die Ereignisse sind tatsächlich so phantastisch, daß sie fast wie ein Fiktion erscheinen). Gleichzeitig beschwören die Überlebenden an den Orten ihres Grauens beständig die Authentizität der berichteten Erlebnisse. Es entsteht so ein eigentümlicher Kontrast zwischen dem, was der Film zeigt, und dem, was er den Zuschauern zur Imagination aufgibt. Dieser Schwebezustand verstärkt sich noch, wenn man im Laufe des Films das weitere Schicksal des Liebespaares kennenlernt. Ilse Stein und Willi Schulz hatten gerade einmal sechs Monate bei den Partisanen, in denen sie ihre Freiheit gemeinsam genießen konnten. Dann wurden sie vom KGB nach Moskau geholt und dort zwei Monate lang verhört. Nicht von Deutschen wurde ihre Beziehung gewaltsam beendet, sondern von Russen: Willi Schulz starb am 31.12.1944 in einem Kriegsgefangenenlager, in dem er eigentlich für das kommunistische Deutschland nach Hitler "erzogen" werden sollte. Ilse Stein wurde zwangsweise nach Sibirien verschickt, in eine angeblich autonome Zone für Juden. Dort verlor sie ihr gemeinsames Kind, das nach nur drei Lebensmonaten starb.

Wer denkt, daß damit das Martyrium Ilse Steins seinen Höhe- bzw. Tiefpunkt erreicht hatte, irrt. Einiges erfährt das Filmpublikum noch über das Leben der Ilse Stein, die nach dem politischen Zeitenwechsel Anfang der 90er Jahre noch Auswanderungspläne nach Israel oder Deutschland schmiedete. Sie ist ein Leben lang nicht zur Ruhe gekommen und hatte doch die ganze Zeit über ihren persönlichen Schutzengel, der auch wußte, wann ihre Zeit gekommen war. "Jeder der Ghetto-Überlebenden hatte einen Schutzengel", sagt einer der Überlebenden im Film. Der Schutzengel von Ilse Stein hat dazu beigetragen, daß ihr Schicksal für uns aufbewahrt wurde.
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