Die Möllner Briefe
Dokumentarfilm | Deutschland 2025 | 96 Minuten
Regie: Martina Priessner
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2025
- Produktionsfirma
- Insertfilm Produktion
- Regie
- Martina Priessner
- Kamera
- Ayse Alacakaptan
- Schnitt
- Maja Tennstedt
- Länge
- 96 Minuten
- Kinostart
- 11.09.2025
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Dokumentarfilm über Hunderte Briefe an die betroffenen Familien der rassistischen Anschläge von Mölln im Jahres 1992, die erst jetzt ihre Adressaten erreichten.
Ibrahim Arslan fährt mit seinem Sohn zu einer Frau namens Sonja. Vor über 30 Jahren schrieb die ihm einen Brief, in dem sie ihr Entsetzten zum Ausdruck brachte, dass Ibrahim und seine Familie Opfer eines rassistischen Brandanschlags geworden waren. Dem Brief war ein Stein beigefügt, der Ibrahim Glück bringen sollte. Der Adressat war damals sieben Jahre alt und lag schwer traumatisiert in einem Krankenhaus. Doch den Brief bekam er nie. Er wurde von den Behörden nicht zugestellt. Das Chaos nach dem Mordanschlag, bei dem zwei Häuser durch die Flammen stark beschädigt wurden, drei Menschen getötet und neun schwerverletzt wurden, diente als Ausrede für das amtliche Versagen. Vielleicht hätte man dieses eine Versäumnis noch als Resultat ungünstiger Umstände entschuldigen können. Der Haken an der Sache aber ist, dass es nicht nur einen Solidaritätsbrief an die Familie Arslan und die anderen Opfer gab, sondern Hunderte. Doch keiner aus den betroffenen Familien hat sie erhalten. 27 Jahre lang waren sie ins Archiv verbannt.
Ein nasses Bettlaken
Der Dokumentarfilm von Martina Priessner begleitet Ibrahim Arslan dabei, wie er drei Verfasserinnen der Briefe Jahrzehnte später aufsucht, um sich zu bedanken. Und er beleuchtet, wie Arslan um Aufklärung darüber kämpft, warum diese Briefe so lange verschwunden waren. Der Brandanschlag von Mölln richtete sich 1992 gegen migrantische Familien in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt. Dabei wurden Ibrahims Schwester, seine Cousine und seine Großmutter getötet. Er überlebte, weil seine Großmutter ein nasses Bettlaken über ihn warf und ein Feuerwehrmann ihn im dichten Rauch der Küche fand. Noch heute zeugt eine Narbe in seinem Gesicht von seinen damaligen Qualen.
Das Leben der Familie Arslan ist seither von dem rechtsradikalen Anschlag geprägt. Die Familienmitglieder trauern nicht nur um die Toten, sondern haben mit Traumata zu kämpfen. Ibrahims jüngerer Bruder Namik war beim Anschlag erst acht Monate alt. Er hat keine Erinnerungen an die ermordete Schwester, geht mit dem Trauma aber weniger offensiv um als sein älterer Bruder. Erst nach einer Operation ist er so weit, sich Hilfe zu organisieren. Seine Psyche ist nicht stabil; die durch das Trauma ausgelösten Marotten lassen sich nur schwer bekämpfen. Namik hat enormen Beschützerinstinkt entwickelt. Nur er darf die Tür öffnen, wenn es klingelt. Und seine Familienmitglieder müssen sich ständig melden, wenn sie unterwegs sind.
Die Mutter wiederum hat eine Schachtel mit persönlichen Gegenständen ihrer toten Tochter aufbewahrt. Darin befinden sich Ohrringe, ein Tuschekasten und ein Zettel mit ihrer Schrift. Weil Ibrahim Angst hat, dass diese Erinnerungen seine Mutter zusätzlich belasten, werden die Gegenstände später einem Archiv übergeben.
Niemand bekennt sich schuldig
Die Regisseurin filmt alle Überlebenden, spricht aber vor allem mit den beiden Brüdern. Sie begleitet sie mit der Kamera: zu Hause, im Auto oder bei Zusammenkünften in der Familie, aber auch mit Repräsentanten der Stadt. Der amtierende Bürgermeister von Mölln will nicht über die Versäumnisse seines Vorgängers in den 1990er-Jahren sprechen. Doch irgendwann setzen die Arslans der Stadt ein Ultimatum. Sie wollen Antworten und dass sich die deutschen Behörden zu ihren Fehlern bekennen. Doch auch der Archivar weist jede Schuld von sich.
Ibrahim aber bekämpft durch sein hartnäckiges Handeln seine Traumata und setzt sich zudem gegen Vorurteile und Rassismus ein. Vor der Kamera erinnert er sich an den alltäglichen Rassismus, dem er als Kind und Jugendlicher ausgesetzt war. So durfte er beim „Tag der offenen Tür“ nicht die Räumlichkeiten der Polizei betreten; stattdessen sagte man ihm: „Du wirst die Zelle eines Tages ohnehin von innen sehen.“
Der Briefschreiberin Sonja, die heute eine erwachsene Frau ist, dankt er für ihre damaligen Zeilen und den Glücksstein, den er als besonderes Geschenk empfindet. Ibrahim sucht auch zwei andere Frauen auf: eine Deutsche mit afrikanischen Wurzeln und eine aus Russland stammende Jüdin. Ihre Gespräche sind voller Sympathie, Wärme und Verständnis füreinander. Auch wenn die Aufklärung der Unterschlagung der Briefe unter Einbeziehung der Behörden langwierig ist, geben die Arslans nicht auf.
„Die Möllner Briefe“ erzählt so nicht nur von einer bürokratischen Odyssee, sondern auch von einer Familiengeschichte. Durch die vielen Gespräche seziert der Film die deutsche Gesellschaft sowie ihr Verhältnis zu Migranten. Der Film ist geprägt von Sympathie und Verständnis für die Opfer, will aber weder Pamphlet noch laute Anklage sein; er ist vielmehr ein Werk, das durch das Persönliche auf das Übergeordnete schließen lässt.
Von Anneke für Ibrahim
Und dann sind da ja noch die eigentlichen Briefe, die so sorgfältig aufbewahrt wurden. Sie berühren in vielfacher Hinsicht, weil sie von Solidarität zeugen, aber auch von der Scham deutscher Mitbürger über das Verbrechen. Einem der Briefe ist ein 20-DM-Schein beigefügt. Manche Adressen sind nicht ganz korrekt; einige Briefe waren an die Teestube in der Nähe des Anschlaghauses gerichtet, andere einfach an „Familie Arslan, Mölln“ oder „An die Familien der getöteten türkischen Mitbürger“. Die Briefe von Kindern gehen dabei besonders zu Herzen. Ein Kind malte ein Bild von einer Feuerwehr, ein Mädchen zeichnete Blumen, einen Schmetterling, eine Sonne, ein Haus mit Kindern und versah das Blatt mit der Überschrift „Von Anneke für Ibrahim Arslan“ – mit ganz vielen bunten Herzen hinter seinem Namen.