Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte

Dokumentarfilm | Tschechien/Österreich/Frankreich/Deutschland/Slowakei 2024 | 90 Minuten

Regie: Klára Tasovská

Die Bilder der tschechischen Fotografin Libuše Jarcovjáková sind direkt, intim und verletzlich. Im Spannungsfeld von politischen und gesellschaftlichen Restriktionen, Freiheitswillen und Identitätssuche fotografiert sie Fabrikarbeit, tschechische Roma und vietnamesische Gastarbeiter, bevor sie in den 1980er-Jahren zur Chronistin und Akteurin der Prager und Berliner LGBTQ-Szene wird. Der Film erzählt das Leben der Künstlerin in ihren eigenen Worten und mit ihren eigenen Bildern. Jarcovjákovás Fotos werden mit Tagebuchauszügen zu einem visuellen Tagebuchfilm über ein bewegtes Leben verwebt, das von einer nie abgeschlossenen Identitätssuche bestimmt ist. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JEŠTĚ NEJSEM, KÝM CHCI BÝT
Produktionsland
Tschechien/Österreich/Frankreich/Deutschland/Slowakei
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Mischief Films/nutprodukcia/Somatic Films/Česká televize/arte
Regie
Klára Tasovská
Buch
Alexander Kashcheev · Klára Tasovská
Kamera
Libuše Jarcovjáková
Musik
Adam Matej · Oliver Torr · Prokop Korb
Schnitt
Alexander Kashcheev
Länge
90 Minuten
Kinostart
27.02.2025
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm | Dokumentarisches Porträt | Künstlerporträt
Externe Links
IMDb | TMDB

Dokumentarisches Porträt der tschechischen Fotografin Libuše Jarcovjáková und ihrer intimen Bilder.

Aktualisiert am
07.02.2025 - 12:16:06
Diskussion

Als die 16-jährige Libuše Jarcovjáková 1968 zu fotografieren beginnt, hat sie zunächst Scheu, Menschen nahe zu kommen. Auf ihren ersten Fotografien sind sie von hinten oder angeschnitten zu sehen, auf Unterkörper und Beine reduziert, mit Abstand, oft auch aus erhöhter Perspektive vom Fenster aus. Eine Fotografie aus den frühen Jahren bleibt besonders in Erinnerung. Sie zeigt ein mit Gardinen fast vollständig verhängtes Fenster. Eine Hand, die zwischen den Stoffteilen zum Vorschein kommt, ist gerade damit beschäftigt, den Vorhang zuzuziehen. Es liegt eine Zurückhaltung in der Szene, etwas Verstecktes, Geheimnisvolles, das man als Ausdruck einer persönlichen wie politischen Situation lesen könnte.

Die Niederschlagung des Prager Frühlings macht den Plan der angehenden Fotografin, ein Studium zu beginnen, vorerst zunichte. Als Tochter eines erklärten Regierungskritikers soll sie ihre positive Einstellung gegenüber dem sozialistischen System erst unter Beweis stellen. Das Vorhangfoto lässt sich aber auch rezeptionsgeschichtlich deuten. Schließlich sollte es Jahre dauern, bis die Arbeiten von Libuše Jarcovjáková von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Erst eine Retrospektive in Arles im Jahr 2019 brachte ihr breitere Anerkennung ein.

Fotografieren & schreiben

Die Filmemacherin Klára Tasovská lässt in „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ das Leben von Libuše Jarcovjáková in ihren eigenen Worten und mit ihren eigenen Bildern erzählen. Jarcovjáková fotografierte nicht nur, sie schrieb auch Tagebuch; beides ist in ihrem Leben Gegenstand einer alltäglichen Praxis. Im Film werden beide Medien, das fotografische, fast ausnahmslos schwarz-weiße Bild und das geschriebene und (von ihr) gesprochene Wort, zu einer „Diashow“ aus statischen Bildern zusammengeführt, dynamisiert und durch die rhythmische Montage und eine vielschichtige Tonspur verlebendigt.

Die einzelnen Fotos – es existieren zehntausende Negative – lassen sich ausgesprochen flüssig miteinander verbinden. Jarcovjáková besitzt eine Vorliebe für fotografische Sequenzen; die Nähe zum Bewegtbild ist darin bereits angelegt. Auf ihrer Website bezeichnet sie sich als Fotografin und „Visual Story Teller“. Dass ihr Leben von zahlreichen Abbrüchen und Neuanfängen geprägt ist, geht in der fluiden, fast schon fotoromanhaften Form des Films ein wenig verloren. Stets finden sich Bild und Text im jeweils anderen bestätigt. Dissonanzen und Lücken gibt es keine.

Gegen Konformismus und Anpassung

Prag, Tokio, wo Jarcovjáková mehrfach einige Zeit verbringt und Mitte der 1980er-Jahre überraschend als Modefotografin reüssiert, sowie West-Berlin sind die Schauplätze ihres bewegten Lebens. Das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Restriktionen und Freiheitswillen bestimmt ihre Biografie.

Jarcovjákovás Bilder sind voller Widerstand. Sie begehren gegen Konformismus und Anpassung auf, sind aber zugleich auch Zeugnis einer rastlosen Identitätssuche; sie erzählen von Einsamkeit und Depression. In einer Prager Druckerei, in der die Fotografin in der Nachtschicht arbeitet, um sich ein „glaubhaftes Arbeiterklasse-Profil“ zuzulegen, dokumentiert sie Arbeiter im Zustand äußerster Erschöpfung: schlafend auf Stühlen, Tischen oder dem Fußboden. Als die Fotos das Komitee der kommunistischen Partei in der Fabrik erreichen, wird sie umgehend entlassen. Sie diffamiere den sozialistischen Arbeiter. Wieder wird es nichts mit dem Studium, auf das sie noch Jahre warten muss.

Andere Bilder entstehen im Privaten, nach der Arbeit in Kneipen, aber auch zu Hause, wo sie ihr stürmisches Liebesleben dokumentiert – und sich selbst, als Selbstporträt im Spiegel, als Körperfragment, oft nackt. Dass sie die „New York Times“ viele Jahre später als „Nan Goldin des kommunistischen Prags“ bezeichnet, hat mit der Direktheit und Verletzlichkeit ihrer Fotos zu tun – und denen ihrer Sujets.

Der Beginn ihrer Queerwerdung

Jarcovjákovás Blick gilt nicht dem Repräsentativen, sondern dem Minoritären, und ihre Einblicke sind stets intim. Sie fotografiert tschechische Roma und vietnamesische Gastarbeiter, die sich für ihre Angehörigen zu Hause in Szene setzen. Bald dokumentiert sie auch die Prager LGBTQ-Szene, in die sie Anfang der 1980er-Jahre eintaucht und die der Beginn ihrer Queerwerdung ist. Küssende, tanzende, eng umschlungene Paare, Körper im Rausch. Farbe kommt in den Film, die Bilder folgen jetzt eng getaktet aufeinander, sie „tanzen“ im Beat der (gegenwärtigen) Musik. Einen Track lang ist „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ fast ein Flickerfilm. Als Jarcovjáková wegen der Fotos Probleme mit der Polizei bekommt, geht sie eine Scheinehe ein und zieht nach West-Berlin. Auch hier dokumentiert sie das queere Nachtleben: aus seinem Innersten heraus. Die Worte einer Freundin, die sie ihr Leben lang begleitet, treffen es schön. Ihre Bilder seien „das Leben selbst“.

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