Die Papiere des Engländers

Drama | Portugal 2024 | 133 Minuten (drei Folgen)

Regie: Sérgio Graciano

Dreiteilige Miniserie über den Anthropologen, Filmemacher und Poeten Ruy Duarte de Carvalho, der sich mit zwei Männern auf eine Reise durch Angola begibt, um in der Namib-Wüste eine Hinterlassenschaft seines Vaters zu finden. Doch je weiter sie vordringen, desto mehr wachsen die Zweifel an ihrer Mission. Anhand der Menschen, die ihren Pfad kreuzen, wird die Geschichte Angolas vor und nach dem Unabhängigkeitskrieg beleuchtet. Inszenatorisch lebt die Serie vor allem von der Diskrepanz zwischen in sich ruhenden Bildern des indigenen Alltags und aufgeladenen Voiceover-Texten, die elliptisch durch die Jahrzehnte springen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
OS PAPÉIS DO INGLÊS
Produktionsland
Portugal
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Leopardo Filmes
Regie
Sérgio Graciano
Buch
José Eduardo Agualusa
Kamera
Mário Castanheira
Schnitt
Mário Castanheira · Roberto Perpignani
Darsteller
João Pedro Vaz (Ruy Duarte de Carvalho) · David Caracol (Jonas Trindade) · Domingos Joaquim Pedro (Tyimbanda dos Bois) · Carlos Agualusa (Severo) · Délcio Rodrigues (Kapa)
Länge
133 Minuten (drei Folgen)
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Serie
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IMDb

Miniserie über den Anthropologen, Schriftsteller und Filmemacher Ruy Duarte de Carvalho während einer Reise durch das postkoloniale Angola.

Aktualisiert am
09.12.2024 - 16:47:16
Diskussion

Bilder und Geschichte haben einander verloren und finden auch nicht mehr zusammen. Das Ergebnis ist eine (Mini-)Serie mit zwei Geschwindigkeiten. „Die Papiere des Engländers“ von Sérgio Graciano setzt sich zusammen aus ruhigen, beobachtenden Einstellungen nahe am Stillstand – und einer Handlung, die im Galopp durch die Geschichte des Poeten, Filmemachers und Anthropologen Ruy Duarte de Carvalho (João Pedro Vaz) und seiner Wahlheimat Angola jagt.

Jäger, Sammler, Hirten

Elliptisch und sprunghaft vergehen Jahrzehnte vor und nach der Unabhängigkeit der südwestafrikanischen Republik im Jahre 1975. Geschriebene und gesprochene Worte überlagern lange Einstellungen, ohne je ganz mit ihnen zu verschmelzen. Diese filmische Form hat mit der Arbeit des realen Ruy Duarte de Carvalho zu tun. Der 1941 in Portugal geborene Schriftsteller wuchs bei seinem Vater, einem Abenteurer und Großwildjäger, im Süden von Angola auf. Nach seinem Studium in London und Paris kehrte er dorthin zurück, um als Schafzüchter zu arbeiten und die Gebräuche und Überlieferung der indigenen Bevölkerung zu studieren. Wie der Produzent von „Die Papiere des Engländers“, Paulo Branco, in einem Interview erklärte: „Die Ureinwohner leben immer noch auf ihre natürliche Weise und bewahren ihre Bräuche. Das ist es, was Duarte fasziniert hat.“ Passend dazu heißt es in der Serie einmal über Angola: „Hier gibt es noch Jäger und Sammler, die sich auf den nächsten Schritt vorbereiten, Hirten zu werden, obwohl es angesichts der Welt eigentlich normal wäre, dass sie sich alle zum westlichen Wirtschaftsmodell bekehren.“

De Carvalho spricht in einem Interview aus dem 1983 von der „Bewahrung eines Volksgedächtnis“. Passend dazu tritt er als Figur in einer Serie auf, in der jedes Schriftstück und jeder Mensch zum Portal in die Vergangenheit wird. Für Duartes Biografie interessiert sich die dreiteilige Miniserie mit ihren jeweils 45-minütigen Teilen dabei kaum. Stattdessen werden andere Figuren in den Mittelpunkt gerückt.

Nach einer kurzen Einführung, in der Duarte von einem Schriftstück erfährt, dass eine Lücke in seiner Familiengeschichte schließen könnte, wird in einer langen Rückblende zunächst die Geschichte seines Wegbegleiters Jonas Tinidade (David Caracol) erzählt. Der Lagerkoch, Anthropologe und Dichter arbeitete von seiner Kindheit an für reiche Familien, lernte die Klassiker der Literaturgeschichte kennen und schloss sich schließlich der Befreiungsbewegung in Angola an.

Ein Mensch der Grenze

In der zweiten Episode geht es primär um den Angolaner Severo da Silva (Carlos Agualusa). Der Deserteur und zwischen den Kulturen gefangene „Mestiços“ floh einst vor dem Krieg nach Namibia, wo die Liebe seinem Leben einen Sinn gab. Über sich selbst sagt er: „Als Mulatte, und damit als koloniales Nebenprodukt bin ich doch selbst ein Mensch der Grenze. Ein Grenzverlorener.“ Ähnlich übermäßig deskriptiv sind viele Dialoge der Serie, irgendwo zwischen literarisch und didaktisch. In den Bildern wird Severos Grenzverlorenheit hingegen so viel unmittelbarer ausgedrückt, wenn ihn die flackernden Lichter der Zelte aus dem Schatten der nächtlichen Savanne locken.

Erst in der dritten Episode findet die Erzählung wieder zu Duarte. In langen Dialogen mit europäischen Forscherinnen und seinem reaktionären Cousin Kaluter (Miguel Borges) werden die Nachwirkungen des Unabhängigkeitskriegs und des Entkolonisierungskonflikts in den langwierigen Bürgerkrieg überführt. Sieger und Besiegte blicken gleichermaßen unsicher in die Zukunft.

„Die Papiere des Engländers“ ist eine Serie über eine Schatzsuche, doch wichtiger als das Finden ist die Suchbewegung an sich. Filmemacher, Poeten und Anthropologen eint, dass sie nicht akzeptieren können, was ist. Wichtiger als das Erzählte ist immer die Erzählform. Lange Einstellungen und Plansequenzen zeigen Tänze, Rituale und andere Gebräuche der Angolaner.

De Carvalhos Kamerablick wollte etwas bewahren, das sonst verloren gehen würde. Eine andere Art zu leben, nicht unberührt oder authentisch, aber, wie Duarte erklärte, „Formen kollektiver Arbeit, die aus der nationalen Kultur entstehen und die man sehr gut übernehmen und an den Geist eines Programms zur sozialistischen Entwicklung anpassen könnte. Das ist es, was ich zu zeigen versuche.“

Bewegung und Stillstand

Die Serie wiederum will diese Perspektive konservieren. Während Voiceover-Stimmen oder Radios von großen historischen Verwerfungen künden, geht der Alltag weiter. Man muss sich um die Schafe kümmern und die Gemeinde zusammenhalten. Die Worte rauschen über die Bilder, ähnlich wie die Welt im Wandel an der indigenen Bevölkerung vorbeizieht.

Das Kino hat sich zur Darstellung von Kolonialismus und seiner Einflusssphäre oftmals für eine Ästhetik der Stasis entschieden. Man denke nur an Marguerite Duras’ „India Song“ mit seinen erstarrten, gelangweilten Europäern und den ewigen Berichten vom Tod, die aus der Ferne herangetragen werden. Oder an „Pacifiction“ von Albert Serra mit der praktisch somnambulen Figur des Hochkommissars de Roller, der nur noch auf die Welle wartet, die ihn endlich fortspülen soll. Auch in „Pacifiction“ stößt man auf die beiden Geschwindigkeiten; die Trennung zwischen Zentrum und Peripherie nicht nur als ökonomische oder historische, sondern auch als temporale und rhythmische Kategorie.

Nur die Poeten behalten recht

Man kann Duartes Perspektive für naiv halten. Findet man so den Pfad in eine neue Welt zwischen Schafen und Feldern? Doch Ruy Duarte de Carvalho war nicht einfach nur Ethnograph, sondern auch Poet. Während die reine Faktizität des historischen Blicks in der Serie das Wesen von menschlichen Konflikten und Sehnsüchten immer wieder verfehlt, nähern sich seine Verse der Wirklichkeit an. Kunst ist der Raum, in dem die Poeten recht behalten. Über seinen Begleiter Jonas Tinidade erzählt Duarte, er wäre jahrzehntelang nicht gealtert, nur um eines Morgens plötzlich als ein anderer vor ihm zu stehen, dem die Zeit ihre Furchen ins Gesicht gegraben hat. Ein ewig Junger wird plötzlich alt; doch es hat sich in seinem Widerstand gegen die Zeit etwas bewahrt. Passend dazu endet die Geschichte letztlich mit der Zeile: „Vergehen wird, wer das Vergängliche wählt.“

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