Hundert Jahre Einsamkeit

Drama | Kolumbien 2024 | 511 (8 Folgen) Minuten

Regie: Alex Garcia Lopez

Im Urwald Kolumbiens unweit des Ozeans liegt das Dorf Macondo. Irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet, wächst dort mit den Jahren eine autark lebende, fast utopisch anmutende Gesellschaft heran, in deren Zentrum die Familie Buendía steht. Doch eines Tages wird die Regierung auf den Ort aufmerksam. Mit dem Frieden ist es endgültig zu Ende, als Bürgerkriege das ganze Land erschüttern. Der kolumbianischen Serienverfilmung des gleichnamigen Klassikers der lateinamerikanischen Literatur gelingt es, die magische Welt der Erzählung von Gabriel Garcia Marquez in Bilder von hoher symbolischer Kraft zu übertragen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CIEN AÑOS DE SOLEDAD
Produktionsland
Kolumbien
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Dynamo
Regie
Alex Garcia Lopez · Laura Mora Ortega
Buch
Camila Brugés · Albatros González · Jose Rivera · Natalia Santa
Kamera
Sarasvati Herrera · Paulo Perez
Musik
Camilo Sanabria
Schnitt
Irene Blecua · Alicia González Sahagún · Jonathan Pellicer · Miguel Schverdfinger
Darsteller
Claudio Cataño (Coronel Aureliano Buendía) · Jerónimo Barón (Aureliano Buendía) · Marco González (José Arcádio Buendía) · Leonardo Soto (José Arcádio) · Susana Morales (Úrsula Iguarán)
Länge
511 (8 Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Serie
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Bildgewaltige Adaption des Literaturklassikers um die Geschichte einer kolumbianischen Familie über mehrere Generationen hinweg.

Diskussion

Literaturverfilmungen sind üblich, es gibt allerdings Klassiker, die immer schon als schwer verfilmbar galten. Am beliebtesten ist das Argument, ein Film zerstöre die Imagination, die das Lesen auszeichne: Die erzählte Welt könne nie und nimmer so (Film-)Bild werden, dass dies mit den Bildern, die der Text im Kopf erzeugt, mithalten könne. Gabriel Garcia Marquez ist gewiss einer der großen Magier der Literatur des 20. Jahrhunderts, und sein 1967 erschienenes Meisterwerk „Hundert Jahre Einsamkeit“ wurde anscheinend lange für unverfilmbar gehalten, jedenfalls gab es trotz des weltweiten Erfolgs des Buchs lange keine Adaption. Das mag mit der Herausforderung zusammenhängen, einen filmischen Ausdruck für den magischen Realismus zu finden, den der Literaturnobelpreisträger berühmt und populär gemacht hat; es liegt aber nicht zuletzt auch daran, dass Garcia Marquez selbst seinen Roman nicht verfilmt sehen wollte. 2014 ist er gestorben. 2019 gab Netflix bekannt, die Rechte an der über einen Zeitraum von hundert Jahren erzählten Geschichte der Familie Buendía, die im Urwald das Dorf Macondo gründet, erworben zu haben. Sinnvollerweise wurde eine in Kolumbien, Garcia Marquez’ Heimat, produzierte Serienadaption daraus.

Die Magie des Films

Und so kühn oder gar anmaßend, wie das Unterfangen, den Klassiker nun doch zu verfilmen, manchen Garcia-Marquez-Bewunderern scheinen mag, ist es tatsächlich gar nicht: Eigentlich ist der Roman dazu prädestiniert, verfilmt zu werden, weil die Daguerreotypie, die erste Form der fotografischen Abbildung, darin eine wichtige Rolle spielt. Schon zu Beginn des Romans steht geschrieben: „In Kürze wird der Mensch alles sehen können, was auf der Erde geschieht, ohne aus dem Haus zu müssen.“ Es ist eine Figur namens Melquiades, die diese Worte spricht. Er führt die Gruppe von Schaustellern an, die eines Tages im abgelegenen Dorf Macondo auftaucht.

Zuvor hatten José Arcadio Buendía (Marco González) und seine Frau Ursula (Susana Morales) sowie ihre Freunde, die mit ihnen Macondo gründeten, noch keine Fremden getroffen. Für José wird der weit gereiste Melchiades zum Lehrmeister werden, der ihm die Welt erklärt.

Eine zwiespältige Horizonterweiterung

Je mehr sich José allerdings mit der Welt außerhalb der seinigen beschäftigt, indem er sich das Wissen von Melchiades um die Verwendung nautischer Instrumente und alchemistischer Experimente und schließlich das Herstellen von Bildern der Wirklichkeit aneignet, desto mehr entgleitet ihm, zum Leidweisen von Ursula, das Leben selbst. Denn sein Wissen bleibt nicht singulär. Auch andere erweitern ihren Horizont, zum Guten und zum Schlechten. Weitere Fremde kommen nach Macondo und bringen die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte anwachsende Familie sowie das Gemeinwohl vor Ort durcheinander.

Als José Arcadio Buendía darüber im Bilde ist, wie der Daguerreotypie-Apparat funktioniert, fängt er wie ein Besessener an, die Menschen in Macondo zu fotografieren. Darin hofft er, Gott zu finden. Das gelingt ihm nicht. Als Ursula ein Pianola anschafft, ist er so angetan von der Mechanik, dass er glaubt, darin Gott zu finden. Doch auch diese Hoffnung zerschlägt sich rasch.

Mit ähnlicher Besessenheit wie ihre Hauptfigur scheinen die Macher der Serienadaption zu Werke gegangen zu sein: Die Adaption setzt alles daran, die Welt aus dem Roman auferstehen zu lassen. Da ist das imposante, sich von Episode zu Episode erweiternde Dorf, ein innovativ gebautes Setting (für das vermutlich leider einige Bäume gefällt werden mussten). Da ist die Kamera, die in perfekter Harmonie mit der Montage diesen Ort und die Leidenschaften ihrer Bewohner mit hoher Präzision und zugleich Verspieltheit einfängt. Unermüdlich und elegant folgt sie beweglich den Figuren durch die Straßen des Dorfes und die Räume der außergewöhnlichen Häuser. In der Montage gelingt es, ohne großen technischen Firlefanz die Magie so mancher Szene erlebbar zu machen. Man gewinnt den Eindruck, als habe man den Daguerreotypen als frühes Exempel der Fotografie zum konzeptionellen Vorbild der Serie genommen. Kamera und Montage erschaffen die Magie; mehr braucht es nicht.

Das gute Leben

Obwohl Garcia Marquez’ Roman bereits mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist, scheint zudem aktuell ein guter Zeitpunkt, die große Erzählung von einem Dorf im Dschungel filmisch wieder aufleben zu lassen. Denn diese für die Erde so wichtigen Naturreservate drohen durch den nicht nachlassenden hemmungslosen Raubbau endgültig zu verschwinden. Macondo steht beispielhaft dafür, wie eine Gemeinschaft funktionieren kann. Aus Lateinamerika kommt das Konzept des „Buen vivir“, des guten Lebens nach ökologischen und sozialen Normen, das in einigen Ländern sogar in der Verfassung steht. In „Hundert Jahre Einsamkeit“ wird ausgemalt, wie dieses gute Leben aussehen kann – und was es gefährdet: Es wird auf magische und zugleich anschauliche Weise gezeigt, wie die Gier entsteht, wenn Menschen mit dem, was sie haben, nicht glücklich oder zufrieden sind. Auch José Arcadio Buendía kommt mit den ersten Geräten von Melchiades, bei denen es sich um riesige Magneten handelt, auf die Idee, damit im Boden verborgenes Gold zu finden. Mit den Kenntnissen der Alchemie will er Edelmetalle herstellen. Während Ursula ein Süßwarengeschäft aufbaut, von dem alle Menschen im Ort etwas haben (die Zähne vermutlich eher nicht), versucht er permanent, sich selbst zu verwirklichen, und merkt dabei nicht, dass ihn dies von der Gemeinschaft zu entfremden droht. Man könnte mit Norbert Elias sagen, dass hier mit dem Dorf Macondo pars pro toto ein Prozess der Zivilisation erzählt wird, der aber eigentlich ein Prozess zunehmender Entfremdung ist. Bürgerkriege werden das Dorf erschüttern, die noch zu Lebzeiten von Gabriel Garcia Marquez Kolumbien prägten.

Mit „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist pünktlich zu Weihnachten ein Juwel von einer Serie gelungen, das die ganze Schönheit und Gewalttätigkeit des Menschen vor Augen führt.

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