Die Einsamkeit der Großstädter*innen
Dokumentarfilm | Deutschland 2024 | 84 Minuten
Regie: Sobo Swobodnik
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Guerilla Film Koop.
- Regie
- Sobo Swobodnik
- Buch
- Sobo Swobodnik · Margarita Breitkreiz
- Kamera
- Sobo Swobodnik
- Musik
- Elias Gottstein · Quirin Neas
- Schnitt
- Manuel Stettner
- Länge
- 84 Minuten
- Kinostart
- 14.11.2024
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
Mit Spiel- und Performance-Elementen arbeitender Dokumentarfilm über eine alleinlebende Frau, die Kontakt mit Schicksalsgefährtinnen sucht und sich mit ihnen austauscht.
Schädlicher gar als Zigaretten, Alkohol und zu viel fettes Essen soll sie sein, eine Gefährdung für die Gesundheit wie für die Demokratie: die Einsamkeit. Mit sozialem Versagen gleichgesetzt, hat das insbesondere unter Großstadtmenschen weit verbreitete Gefühl ein denkbar schlechtes Ansehen. Einsamkeit macht ängstlich, verzweifelt und klein, ist weder cool noch sexy. Warum ist das so, war das schon immer so, was lässt sich dagegen tun, Auflehnung oder mutiges Eingeständnis … Kapitulation?
Das sind die Fragen, die in „Die Einsamkeit der Großstädter*innen“ mehr oder weniger direkt gestellt und monologisch wie dialogisch erkundet werden. Trägerin und Verkörperung dieser Fragen ist Karate, eine dreiundvierzigjährige alleinlebende Frau und Schauspielerin, die auf der Suche ist nach Austausch, Auseinandersetzung, Aufmerksamkeit, Lust, Begierde, Sex und ja, auch Liebe. Karate heißt natürlich nicht wirklich so, es ist ihr Nickname auf diversen Dating-Seiten. Auch diese haben sprechende Namen: Pickable, Bumble, Once, Candidate, Tinder.
Ein Gegenüber, an dem es sich abzuarbeiten gilt
Gespielt oder vielmehr performt wird Karate von Margarita Breitkreiz, die vor allem mit der Berliner Volksbühne assoziiert ist, mit Diskurstheater und Darstellungskunst als Repräsentationskritik und seit einiger Zeit auch mit den schnell und mit sehr wenig Geld produzierten Filmen von Sobo Swobodnik, an denen sie als Schauspielerin und Co-Autorin mitwirkt. „Klassenkampf – Porträt einer sozialen Herkunft“ (2021), „Geschlechterkampf – das Ende des Patriarchats“ (2023): Immer gibt es ein Gegenüber, an dem es sich abzuarbeiten gilt.
Wie schon die letzten Arbeiten basiert auch „Die Einsamkeit der Großstädter*innen“ auf inszenatorischer Reduktion, Improvisation, dokumentarischem Realismus und Theoriereferenz. Ein bekanntes Zitat von Blaise Pascal, das sich in den Text eingewoben findet, schwebt über dem Film: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“
Die Struktur des Films, der sich selbst als „hybrider dokumentarischer Spielfilm“ bezeichnet, ist denkbar simpel. Karate kontaktiert über Dating-Apps verschiedene Frauen, bei manchen bleibt es beim digitalen Austausch, andere trifft sie, meist in blonder, leicht zotteliger Perücke, im „Real Life“: zum Trinken, Flirten, Knutschen, manchmal auch zum Sex, hauptsächlich aber zum Reden. Jede der zehn Frauen, die sie trifft, nimmt jeweils ein eigenes Kapitel ein, dazwischen stehen, gleichsam wie leere Seiten, mit Musik von Susana Abdulmajid unterlegte Aufnahmen charakterloser Straßen und Gebäudefassaden, in die Textnachrichten aus den Chats hineinploppen. Die Bilder sind in mattem Schwarz-weiß gehalten, im Zentrum steht der Text – und das mal fragende, zweifelnde, mal erwartungsvolle, vergnügte und immer lebhafte Gesicht von Margarita Breitkreiz. Ein Chor, bestehend aus drei Männern, ergänzt das Figurenpersonal.
Die Gespräche ziehen weite Kreise
Schauplätze sind die eigene Wohnung, Bars, Supermärkte, Spätis und die nächtlichen Straßen Berlins, der Radius ist begrenzt und erstreckt sich zwischen Volksbühne, Alexanderplatz und Eberswalder Straße. Hinzu kommt ein angedeutetes Bühnensetting, in dem Karate, Vera, Michelle, Pia, Jiu Jitsu und wie sie alle heißen, ihre Gedanken über die Einsamkeit in ein Mikrofon – und mitunter direkt in die Kamera – hineinsprechen. Die Gespräche ziehen weite Kreise: Von der Einsamkeit in pandemischen Zeiten über die Rolle der sozialen Medien und der Maschinenliebe bis hin zu dem in Japan unter dem Begriff Hikikomori bekannten sozialen Phänomen äußerster Selbstisolation.
„Die Einsamkeit der Großstädter*innen“ ist nicht ohne Redundanzen, auch der stereotype Rhythmus erzeugt eine auf die Dauer etwas ermattende Zirkelbewegung. Dankbar ist man daher über jede etwas exzentrischere Gedankenbewegung, die den Rahmen von Zeitungsartikeln, Talkshowrunden und des persönlichen Erlebnisberichts verlässt, um, nur so zum Beispiel, ein wenig im altbabylonischen Gilgamesch-Epos umherzuschweifen.