Drama | Deutschland 2024 | 121 Minuten

Regie: Omer Fast

Nach einer Protestaktion gegen Waldrodungen stürzt eine als Angela Merkel maskierte Aktivistin in eine Schlucht. Verletzt trifft sie auf eine abgeschottet lebende Kommune, deren maskierte Bewohner:innen sich einem radikal dezentralen, non-identitären Lebensentwurf verschrieben haben. Der Film konfrontiert Fragen von Individuum und Kollektivität, Maskerade und Identität mit der bundesdeutschen Realität. Ein filmischer Nachtrag zu den so genannten Corona-Jahren, der angesichts der jüngsten Kriege in der Ukraine und dem Nahen Osten, aber auch der politischen Machtverschiebungen und Diskursverhärtungen anachronistisch anmutet. - Ab 16. (50537)
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Filmgalerie 451
Regie
Omer Fast
Buch
Omer Fast
Kamera
Lukas Strebel
Musik
Dirk Dresselhaus
Schnitt
Janina Herhoffer
Darsteller
Stephanie Amarell (Merkel) · Marie Tragousti (Alien/Angie) · Sebastian Schneider (Vogelscheuche/Jason) · Janina Stopper (Angie/Alien) · Amon Wendel (Aladin)
Länge
121 Minuten
Kinostart
05.12.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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IMDb

Konzeptdrama um eine an die deutsche Gegenwart angelehnte Parallelwelt, die sich einem utopischen Lebensentwurf verschrieben hat.

Diskussion

„Unsere Vorstellung von Normalität, von öffentlichem Leben und vom sozialen Miteinander – all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor“. Die brüchige Stimme aus dem Off klingt wenig staatstragend. Unter großer Anstrengung presst sie die Worte heraus. Offensichtlich gehört sie zu der als Angela Merkel maskierten Frau, die mit ihrem Smartphone hektisch Waldarbeiter beim Fällen eines Baumes filmt, während sich andere Aktivist:innen hinter Erdhügeln und Stämmen verstecken. Die Rede klingt vertraut; spätestens mit dem Ausspruch „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“ gibt sie sich als die historische Fernsehansprache der damaligen Bundeskanzlerin zu Beginn der Corona-Epidemie im Jahr 2020 zu erkennen. Das sind aber so ziemlich die einzigen Gewissheiten in dem Film „Abendland“, den der in Berlin lebende israelische Videokünstler Omar Fast gedreht hat.

Dezentral & nicht-identitär

Auf der Flucht vor der Polizei rutscht „Angela“ einen steilen Abhang hinunter und verletzt sich am Bein. Humpelnd ruft sie nach Hilfe. Eine Packung Tofu-Frikadellen führen sie zu einem in einer Höhle hausenden Waldbewohner, der mit seinen lockenden wie zugleich abwehrenden Bewegungen ein wenig an den Halbling Gollum aus „Herr der Ringe“ erinnert. Schauplatz von „Abendland“ ist jedoch kein zweites Mittelerde, sondern eine an die deutsche Gegenwart angelehnte Parallelwelt. Die Frau trifft bald auf eine in Baumhäusern lebende Kolonie, die sich, abgeschottet von der Gesellschaft, einem utopischen Lebensentwurf verschrieben hat: autark, dezentral, unhierarchisch, non-identitär; letzteres verpflichtet zum Maskentragen.

Die Kanzlerin wird von der Kommune, die aus Aladin, Guy Fawkes, Alien, Amsel und anderen besteht, nicht unbedingt freundlich aufgenommen. Sie ist der Eindringling, die Migrantin, die womöglich Schaden in die Gemeinschaft bringt, vielleicht sogar für Polizei und Presse spitzelt. Mit besonderem Misstrauen begegnet ihr ihre Doppelgängerin. Die Außenseiter-„Angie“, die immer dann, wenn sie in Stress gerät, weitermerkelt (ein Medley öffentlicher Reden der Bundeskanzlerin), wird deshalb zunächst in Quarantäne geschickt. Da sie sich aber mit Generatoren auskennt und versichert, sich „einbringen“ zu wollen, wird ihre Isolation irgendwann doch aufgehoben, und sie darf bei den anderen sitzen. Für die Integration aber reicht es dennoch nicht.

Schon in „Remainder“ (2015) befasste sich Omar Fast mit Gedächtnisverlust, Rekonstruktion und Identität. In „Abendland“ reibt sich das vormals im künstlerischen Raum operierende Gedankenexperiment jedoch beständig an der wiedererkennbaren Realität: am Hambacher Forst, der Corona-Epidemie, Identitätspolitik oder der Inszenierung und Selbstwahrnehmung von dem Mainstream gegenüber kritischen Oppositionellen als Eingeweihte und Erwählte. Bei einem rituellen Akt werden Masken getauscht, das ‚Ich‘ wandert mit – ein anderes Verständnis des Konzepts ‚fluider Identität“.

„Hambi“-Spiel mit Masken

Am Anfang des Films mögen Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektivität, Außenseitertum und Separatismus, Maskerade und Identität gestanden haben. Im Film werden sie aber nur äußert vage bearbeitet. Unentschieden navigiert die Inszenierung zwischen Abstraktion und Realismus, kokettiert mal ein bisschen mit den Elementen des Folk Horror wie in „The Wicker Man“, mal mit dem politischen Aussteigerdrama. Am Ende aber überwiegt der Eindruck eines „Hambi“-Spiels mit Masken. Indes bleibt die Maske reine Maskierung, ein Ding, das das Gesicht verhüllt; ästhetisch setzt sie kein Spiel in Gang.

Ursprünglich soll der vom Daniel-Defoe-Roman „Robinson Crusoe“ inspirierte Film als Serie geplant worden sein. Vielleicht hätten die Figuren oder vielmehr „Typen“ im horizontalen Erzählraum mehr Kontur gewonnen; vielleicht hätten sich die zitathaften Phrasen auch zu Diskursen verdichtet. So aber hinterlässt „Abendland“ vor allem den Eindruck eines ebenso schwammigen wie anachronistischen Nachtrags zu einer Zeit, die vom Lärm der Gegenwart längst überstimmt worden ist.

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