Grand Tour
Drama | Portugal/Italien/Frankreich/Deutschland/Japan/China 2024 | 128 Minuten
Regie: Miguel Gomes
Filmdaten
- Originaltitel
- GRAND TOUR
- Produktionsland
- Portugal/Italien/Frankreich/Deutschland/Japan/China
- Produktionsjahr
- 2024
- Produktionsfirma
- Uma Pedra no Sapato
- Regie
- Miguel Gomes
- Buch
- Telmo Churro · Maureen Fazendeiro · Miguel Gomes · Mariana Ricardo
- Kamera
- Gui Liang · Sayombhu Mukdeeprom · Rui Poças
- Schnitt
- Telmo Churro · Pedro Filipe Marques
- Darsteller
- Gonçalo Waddington (Edward) · Crista Alfaiate (Molly) · Cláudio da Silva (Timothy Sanders) · Teresa Madruga (Espia) · Manuela Couto (Mrs. Cooper)
- Länge
- 128 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Fabulierfreudiges Kino-Kunstwerk um einen Kolonialbeamten, der sich 1918 durch Flucht seiner Langzeitverlobten entzieht und sich auf eine Reise durch Südostasien und die Kinogeschichte begibt.
Das Riesenrad, das auf einem Jahrmarkt in Myanmar steht, hat seinen Namen eigentlich nicht verdient. Von der Größe her erinnert es mehr an ein Klettergerüst auf einem Spielplatz als an ein Fahrgeschäft. Um überhaupt in Gang zu kommen, muss das motorlose Gerät vom Kirmespersonal mit Händen und Füßen angestoßen werden. Ein Akt, der gelegentlich an Akrobatik grenzt. Auch „Grand Tour“ von Miguel Gomes ist so ein „Ferris Wheel“: spielerisch und mit leicht verrutschten Proportionen. Ein Film, in dem der Erzählmechanismus stets sichtbar bleibt, ganz so, als würde man direkt in einen Maschinenraum hineinblicken. Der aber dennoch immer wieder in leichten Schwindel versetzt.
In den so fabulierfreudigen wie verästelt gestalteten Filmen des Portugiesen Miguel Gomes kann man sich leicht verlieren. „1001 Nacht: Volume 1-3“ (2015) stellte Geschichten aus dem von Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik gebeutelten Portugal beispielsweise in den Erzählrahmen der populären „Märchen aus 1001 Nacht“. Die Murnau-Paraphrase „Tabu“ (2012) wiederum arbeitete mit spiegelnden Teilen. Diese Struktur wird in „Grand Tour“ erneut aufgenommen. Geblieben sind außerdem die Anleihen an die Orientalismus- und Kolonialismus-Fantasien des klassischen Hollywoodkinos. „Grand Tour“ beginnt wie ein exotischer Abenteuerfilm aus den frühen 1930er-Jahren; man kann etwa an die Szenarien eines Josef von Sternberg denken, an Filme wie „Shanghai Express“. Die Schwarz-weiß-Bilder sind weichgezeichnet und wurden auf Tonbühnen gedreht.
Zeit ist ein bewegliches Konstrukt
Edward (Gonçalo Waddington), ein Beamter der britischen Krone, wartet im Hochzeitsanzug am Hafen von Rangun in Birma auf die Ankunft seiner Verlobten Molly Singleton (Crista Alfaiate) aus London. Es herrscht reges Treiben. Die Luft ist feucht, Kisten werden durchs Bild getragen, Tiere verfrachtet. Ähnlich wie die Passagiere, die anfangs auf das etwas klein geratene Riesenrad aufsprangen, besteigt Edward kurz entschlossen ein Schiff nach Singapur.
Es ist der Auftakt einer Reise, die ihn nach Siam, Indochina, die Philippinen, Japan und China führt, gefolgt von Molly, die ihn meist nur um wenige Tage, vielleicht auch Stunden verpasst. Es ist das Jahr 1918, aber Zeit ist in „Grand Tour“ ein prinzipiell bewegliches Konstrukt. Man kommuniziert per Telegramm; dennoch kann es vorkommen, dass mitten im Dschungel auch mal ein Handy klingelt. Zudem bemerkt Edward (und später Molly), dass die Zeit ihnen immer wieder entgleitet.
„Grand Tour“ entfaltet sich in ausladenden, romanhaften Bewegungen. Die Erzählstimme aus dem Off ist die tragende Instanz. Sie spricht in der Landessprache des jeweiligen Schauplatzes; schön ist dabei, wie der Name „Edward“ in jeder der fünf Sprachen einen ganz eigenen Klang bekommt. Ansonsten führt die Erzählstimme aber eine autonome Existenz. Sie korrespondiert nie ganz mit dem, was im Bild zu sehen ist, und spricht auch unbeirrbar weiter, wenn die Figuren für eine Weile aus dem Bild verschwinden. Und dokumentarische Bilder aus der Gegenwart übernehmen, die Gomes mit einem kleinen Team im Frühjahr 2020 in Südostasien auf 16mm aufgenommen hat. Anders als in Jia Zhang-kes „Caught by the Tides“, der ebenfalls dokumentarische Aufnahmen in eine Spielhandlung verwebt, haben diese Bilder nichts Rohes. Sie werden im Gegenteil über Bande gespielt und in ihrem Wirklichkeitsgehalt gebrochen.
Marionettentheater & Wiener Walzer
Ein wiederkehrendes Motiv sind verschiedene Formen der Bühnenkunst wie Marionettentheater oder Puppen- und Schattenspiel, die einmal mehr auf die Künstlichkeit und Gemachtheit des Ganzen hinweisen. Andere Szenen werden durch die musikalische Untermalung überformt – etwa, wenn zum regen Verkehr der Motorräder auf den Straßen von Saigon ein Wiener Walzer erklingt. Musik ist generell ein wichtiges Element. Auf den Philippinen singt ein Mann in einer Karaoke-Bar mit Emphase „I Did It My Way“.
Für Gomes ist „Der Zauberer von Oz“ die Grundlage des Kinos, nicht das Wirklichkeitsverständnis der Bruder Lumière. Jeder seiner Filme folgt im weitesten Sinn Dorothys Gang von Kansas in die Welt des Kinos. Auch in „Grand Tour“ werden Zeit und Raum ganz frei durchquert. Nichts ist in eine feste Form gegossen. Ebenen überlagern sich, fließen ineinander, Erzählpfade öffnen sich auf detailreiche Weise, um sich wieder zu verlieren. Auch Edwards Tour gerät auf Abwege. Auf der Zugfahrt nach Bangkok entgleist der Zug mitten im Dschungel, auf einem kleinen Pferd geht es weiter. Später überquert er als illegaler Passagier auf einem Fischerboot mit hohem Fieber den Golf, bevor ihn ein US-amerikanisches Kriegsschiff nach Japan und zu einer Gruppe Zen-buddhistischer Komuso-Mönche bringt. Und schließlich nach Rangun, wo er sich am Opium berauscht. Hier übernimmt Molly den Film.
Der Abenteuerlust hingeben
Mit dem Perspektivwechsel erhält ein leichterer, komödiantischerer Tonfall Einzug. Allein Mollys Lachen, das mit einem trompetenhaften Prusten endet, ist eine kleine kabarettistische Nummer für sich. Edwards Verlobte entspricht so gar nicht der gängigen Vorstellung einer Frau, die sitzen gelassen wurde; vielleicht ist ihre Jagd auch nur ein Vorwand, sich der Abenteuerlust hinzugeben. Anders als Edward geht sie echte Bindungen ein; mit Ngoc (Lang Khê Tran), der Angestellten eines derben Viehhändlers, entsteht eine tiefe Freundschaft.
Molly infiziert die Geschichte aber auch mit etwas Dunklem, Tragischem. Wenn gegen Ende das Boot in ein Unwetter gerät und kentert, weist dieser Verlust an Kontrolle und Stabilität einmal mehr auf das Bewegungsprinzip des Films: ein unaufhörliches Schwanken zwischen Fiktion und Realität, der Welt und dem Kino.