Die erste persönliche Frage gilt dem Heimatort. Überrascht, aber bereitwillig geben die Männer, denen sich die fremde Frau gegenübergesetzt hat, Auskunft. Florenz, Brighton, Luzern, Hamburg … Städtenamen, wie sie nicht unerwartet fallen in diesem Hotel hinter der riesigen Staudamm-Mauer Grande-Dixence im schweizerischen Wallis. Die adrette Frau im weißen Mantel entlockt den Männern Details zu den genannten Orten, etwa zur Art der Häuserbauten und der Stadtatmosphäre, doch viel mehr wird zwischen ihnen nicht gesprochen. Fast unvermeidlich folgt auf diesen eisbrechenden Auftakt direkt ihre Frage, ob sie auf das Zimmer des Hotelgastes gehen könnten; wenig später haben die beiden Sex in seinem Hotelbett, schlafen hitzig, aber durchaus zärtlich miteinander. Aus diesen Momenten der Leidenschaft soll nichts weiter folgen. Die Frau verlässt alsbald das Zimmer, im Wissen, dass der Mann in Kürze abreisen wird; sichergestellt, dass eine weitere Begegnung nicht stattfinden wird, hat sie bereits bei ihrer Vorauswahl mit Hilfe eines Hotelangestellten: Bevorzugt spricht sie Gäste an, die bald darauf abreisen.
Unverbindliche Sex-Dates als kleine Alltagsfluchten
Was die Frau namens Claudine genau antreibt, regelmäßig von ihrem Dorf im Tal in das Berghotel zu fahren, lässt der schweizerische Regisseur Maxime Rappaz in seinem Spielfilm-Debüt „Fass mich an“ bewusst offen. In jedem Fall haben diese Fahrten einen festen Platz in Claudines Wochenplan. Es sind die Dienstage, an denen sie mit der Bahn zuerst zur Staudamm-Mauer hinauffährt, diese zu Fuß überquert, um mit der Seilbahn wieder etwas herab zu dem Hotelkasten zu fahren. Menschliche Nähe, Intimität und Lust spielen bei den Stelldicheins sicherlich eine Rolle, doch auch die Fragen nach den Heimatstädten sind keineswegs nur Small-Talk-Vorspiel, sondern sehr bewusst gewählt. Denn in ihrem Alltag, unten im Tal, lebt die etwa 50-jährige Claudine allein mit ihrem psychomotorisch behinderten Sohn Baptiste; der Vater hat die beiden eines Tages verlassen. Doch für Baptiste und ein wenig auch für sich leugnet Claudine diesen Bruch und schickt sich selbst regelmäßig Briefe, in denen sie die Stadt-Schilderungen ihrer Liebhaber zu solchen des angeblich herumreisenden Vaters an seinen Sohn gemacht hat. So sehr sie im Hotel keine Beziehung zulassen will, so sehr hält sie in ihrem restlichen Leben den letzten Anschein einer stabilen Bindung aufrecht.
Eine symbiotische Mutter-Sohn-Beziehung
Maxime Rappaz nähert sich seiner Hauptfigur mit einem wachen Auge für pointierte Details an. Claudine wird als selbstständige Frau präsentiert, die zu Hause allein ein Schneidergeschäft führt und sich liebevoll um Baptiste kümmert, den sie nur an den Dienstagen bei einer Nachbarin absetzt. Mit Stolz beobachtet sie, wie dem psychomotorisch eingeschränkten jungen Erwachsenen auf dem Klavier einige Töne gelingen, im Dorfcafé teilen Mutter und Sohn einen zarten Augenblick, als sie ihm ein ausgeschnittenes Magazin-Foto der von ihm verehrten Lady Di mitbringt und Baptiste beschwört, seine Mutter ebenso sehr zu lieben wie die britische Prinzessin. Zu anderen Zeiten kennt ihre Beziehung zwar auch Schmerz, Ermattung und Frust, doch die Harmonie herrscht vor. Wie auch immer Claudine auf ihre Dienstags-Abenteuer verfallen ist, eine grundsätzliche Rebellion gegen ihren Alltag scheint nicht dahinterzustecken.
„Fass mich an“ stellt Berg- und Tal-Handlungsebene zunächst nebeneinander, ohne einer den Vorzug zu geben. Wiederkehrende Einstellungen unterstreichen die Routine, wobei die Schauwerte der Region nur ausschnittsweise in den Blick geraten; zumeist ist die Kamera nahe an Claudine-Darstellerin Jeanne Balibar und macht ihre vielschichtige Mimik zur eigentlichen Attraktion des Films, neben der selbst der imposante Staudamm oft in den unscharfen Hintergrund rückt.
Eine neue Liebe bringt Bewegung in die alten Muster
Eine Abweichung von Claudines geruhsam entfaltetem Dasein entsteht erst, als sie es mit einem Hotelgast von etwas anderer Art zu tun bekommt. Auch der Deutsche Michael ist ein grundsolide wirkender Mann in ihrem Alter oder etwas älter, doch in diesem Fall geht der Kontakt von ihm aus. Zudem steht die Möglichkeit eines Wiedersehens schon nach dem ersten intimen Beisammensein klar im Raum, da er für längere Zeit im Hotel abgestiegen ist. Tatsächlich wird Claudine ihren Prinzipien untreu und trifft sich mehrfach mit Michael, der nicht nur sympathisch und an ihr interessiert, sondern auch weit gereist ist und dadurch eine verborgene Sehnsucht bei ihr anschlägt. Ihr Wille zur Distanz ringt mit der Neigung, sich vollumfänglich der Romanze zu ergeben.
Fast beiläufig positioniert sich der Film schließlich doch als Geschichte eines unumgänglichen Aufbruchs aus festgefahrenen Zuständen. Dabei gelingt es ihm, die Protagonistin zwar als entschlossen in der Sache, aber im Unklaren über das geeignete Vorgehen zu zeigen. Claudine ist sich bewusst, dass sie sich aus ihrem bisherigen Leben loslösen muss, doch wird die Selbstverwirklichung als höchst schmerzhafter Prozess dargestellt. Auch hier beweist Rappaz Mut zu Leerstellen, in berechtigtem Vertrauen auf Jeanne Balibar, die für die feinnervige, aufmerksame und durchaus auch widersprüchliche Hauptfigur eine Idealbesetzung ist. Zwischen Zielstrebigkeit und Überforderung ist die französische Schauspielerin stets der Fixpunkt des Films. Die Welt außerhalb von Claudines Sphäre, eine exakte zeitliche Verortung und allzu kleinliche Fragen nach der psychologischen Wahrscheinlichkeit des Geschehens können daneben mit Recht ausgeklammert bleiben. Und so demonstriert der Film mit beachtlicher Emphase, wie belebend die Kraft sein kann, sich selbst lieben zu lernen.