Was wir fürchten

Coming-of-Age-Film | Deutschland 2023 | 276 (6 Folgen) Minuten

Regie: Daniel Rübesam

Eine Schülerin zieht mit ihrer Mutter, einer Polizistin, in eine Kleinstadt, um sich von Panikattacken zu erholen. Doch die Erinnerung an einen Schulamoklauf hängt wie ein dunkler Schatten über dem Idyll, und das neu zugezogene Mädchen wird bald von Visionen aus dem Reich der Toten heimgesucht. Sowohl diese als auch die Ermittlungen der Mutter hängen mit dem tragischen Massaker an der Schule zusammen. Die Miniserie verwebt geschickt klassische Coming-of-Age-Motive mit Fantasy und Horror und knüpft klug an amerikanische Vorbilder an, ohne sie plump zu reproduzieren. Indem sie eine Atmosphäre des Unbehagens erzeugt und verschiedene Handlungsstränge in der Schwebe hält, geht die Inszenierung vollends in den emotionalen Welten ihrer Figuren auf. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
MIA/Bavaria Fiction
Regie
Daniel Rübesam
Buch
Judith Angerbauer · Torsten Lenkeit · Daniel Rübesam
Kamera
Roland Stuprich
Musik
Anna Kühlein
Schnitt
Linda Bosch
Darsteller
Mina-Giselle Rüffer (Lisa Abel) · Marie Leuenberger (Franka Abel) · Paul Ahrens (Simon Schneider) · Alessandro Schuster (Leon Müller) · Markus von Lingen (Jörg)
Länge
276 (6 Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Coming-of-Age-Film | Horror | Mystery | Serie
Externe Links
IMDb | JustWatch

Mystery-Serie um eine Teenagerin, die von beunruhigenden Visionen aus dem Totenreich heimgesucht wird, und ihre Mutter, die als Polizistin den Hintergründen eines Schul-Amoklaufs nachspürt.

Diskussion

Ihr Schulweg führt die 17-jährige Lisa durch ein Waldstück. Bedrohlich rauschen die Bäume und lassen ihre Äste über das Mädchen hängen. Im Herbst dämmert es unter dem nasskalten Blätterdach schon, wenn sie nachmittags nachhause radelt. Als ihre Fahrradlampe zu flackern beginnt und schließlich ganz ausgeht, sind auch Lisas Nerven am Ende: Sie fühlt sich verfolgt, und schon tauchen hinter ihrem Rücken im Nebel zwei dunkle Gestalten auf. Die Panikattacke bricht wie eine dunkle Welle über die Teenagerin herein.

Sind diese Erscheinungen real oder nur eingebildet? Lisa traut sich nicht, mit ihrer Mutter über die Visionen und die Blackouts zu sprechen. Gerade sind die beiden erst aus der Großstadt weggezogen. Der Ortswechsel zum neuen Schuljahr soll ein Neuanfang sein, nachdem Lisa wegen ihrer Anfälle von den Mitschülern gemobbt wurde und ein Video die Runde gemacht hatte. Mutter Franka hat deshalb auf eine Karriere bei der Kriminalpolizei verzichtet und nun die Leitung der Dienststelle in der Kleinstadt übernommen. Die erhoffte Idylle will sich jedoch nicht recht einstellen, denn die Erinnerung an einen Schulamoklauf hängt wie ein dunkler Schatten über dem Ort.

Kleinstadt, Waldrand, Schul-Horror und übernatürliche Vorkommnisse – das klingt nach klassischem US-Genrematerial. Die sechsteilige Miniserie „Was wir fürchten“ ist jedoch eine deutsche Produktion, ein regelrechtes Novum in der hiesigen TV-Serienlandschaft. Jenseits des altbewährten Fernsehkrimis war vor allem im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bisher nur wenig Platz für Genrestoffe aus den Bereichen Horror, Science-Fiction und Fantasy, weshalb sich keine eigenen Traditionen des Unheimlichen herausbilden konnten. Auch im Kino finden deutsche Filme dieser Genres meistens jenseits des Mainstreams auf Festivals für Liebhaber statt.

Neue deutsche Phantastik

Zum Glück gibt es seit einiger Zeit Vorstöße in diese Lücke, und das ist der Diversifizierung der Ausspielkanäle zu verdanken, allen Unkenrufen von der medialen Reizüberflutung im Allgemeinen und vom Untergang der Kinokultur im Speziellen zum Trotz: Wenn der Markt auf einer unübersichtlichen Plattform-Landschaft mit Content überflutet wird, ist Aufmerksamkeit die neue Währung. Produktions- und Distributionsfirmen müssen ihr Publikum also sehr genau kennen und wissen, auf welchen Plattformen welche Stoffe gesehen werden. Medienanalyst Guy Bisson von Ampere Analysis bestätigte auf der diesjährigen Berlinale, dass Angebot und Nachfrage auf sämtlichen Streamingkanälen vor allem in den Bereichen Horror, Science-Fiction und Fantasy eklatant auseinanderklafften. Amerikanische Streamer haben das bereits verstanden. Die Memes von „Wednesday“ (2022) und natürlich „Stranger Things“ (seit 2016) sind längst auch hier Kult und die Serien zu Phänomenen geworden.

In genau diese Kerbe schlagen mittlerweile auch deutschsprachige Formate wie Peter Thorwarths Vampir-Hit „Blood Red Sky“ (2021), die Thriller-Serie „Der Pass“ (2019-2023), die Horror-Comedyserie „Kohlrabenschwarz“ (2023), „Der Greif“ (2023), „Liebes Kind“ (2023) und auch die deutsch-belgische Koproduktion „Arcadia“ (2023). Riccarda Schemanns Coming-of-Age-Serie „Feelings“ (2023) hat jenseits der klassischen Kanäle zwischen linearem Fernsehen und Streamern mithilfe einer Multi-Plattform-Distribution maximale Aufmerksamkeit generiert: Die Erstveröffentlichung des funk-Formats fand auf YouTube statt, auf TikTok finden sich zusätzliche Inhalte sowie eigene Accounts der Protagonistinnen, in einem letzten Schritt kam die Serie dann auch in den Mediatheken von ARD und ZDF an.

Innere und äußere Dämonen

„Was wir fürchten“ ist zunächst auch erst in der ZDF-Mediathek zu sehen und wird zu Halloween auf zdf_neo in einem Rutsch als Mitternachtsevent ausgestrahlt. Wie „Feelings“ verwebt die Serie klassische Coming-of-Age-Motive mit Fantasy und Horror und knüpft damit gleichermaßen an US-Klassiker und Trends an. Das Drehbuch von Showrunner und Regisseur Daniel Rübesam, Headautorin Judith Angerbauer und Torsten Lenkeit schafft es dabei mühelos, die Genre-Versatzstücke nicht einfach nur zu reproduzieren, sondern atmosphärisch ins Hier und Jetzt zu transportieren: Da wird der tiefste Schwarzwald zum gruseligen Märchenwald, die kleinstädtische Engstirnigkeit wird für alle, die aus dem Raster fallen, zur Bedrohung, und zu Lisas Visionen aus dem Totenreich gesellen sich Figuren aus ländlicher Folklore.

Auf dem Kirchplatz gerät Lisa eines Abends in einen sogenannten „Perchtenlauf“, bei dem sich der Ort versammelt hat, um altem Brauchtum entsprechend böse Geister zu vertreiben. Lisa zweifelt in dem Meer aus realen Gruselmasken und eingebildeten Totenvisionen an der eigenen Zurechnungsfähigkeit. Als schließlich auch noch während einer Gedenkfeier für die Opfer des Schulamoklaufs einer der damaligen Polizisten ermordet aufgefunden wird, kreuzen sich Frankas Ermittlungen mit Lisas Versuchen, sich ihren Ängsten zu stellen. In einem parallel erzählten Handlungsstrang soll der gleichaltrige Simon, Sohn des hiesigen Pfarrers, von seiner Homosexualität geheilt werden, bevor es die ganze Stadt erfährt. Die Eltern stecken ihn in eine Einrichtung, in der er mittels Konversionstherapie zum echten Mann umerzogen werden soll. Auch er muss unterscheiden lernen, wann er tatsächlich gegen innere Dämonen kämpft und wann er sich gegen erzieherische Maßnahmen wehren muss.

Die Serie ist so klug konstruiert, dass sie niemals konstruiert wirkt

Trotz der vielen Handlungsstränge wirken die sechs Teile von „Was wir fürchten“ jedoch niemals überfrachtet, denn Rübesam und sein Team halten sie durch ein diffuses Unbehagen in der Schwebe: Irgendwie scheint das alles zusammenzuhängen, aber so richtig zu greifen bekommt man es nie, weil immer im richtigen Moment Lisas Blackouts dazwischenfunken, Simons Erinnerungen an seinen Geliebten abreißen, oder schlichtweg ein gerissener Schnitt verhindert, dass sich die Puzzleteile zusammenfügen. Die Serie ist so klug konstruiert, dass sie niemals konstruiert wirkt, und deshalb vollends in den emotionalen Welten ihrer Figuren aufgeht: Lisas Sorge, verrückt zu werden, Simons Erkenntnis, dass er zwar selbst genau weiß, wer er ist, aber von seinem Umfeld nicht akzeptiert wird, Frankas Unsicherheit, welchen ihrer neuen Polizei-Kollegen sie vertrauen kann.

Diese schlaue Dramaturgie hält nicht nur die Spannung und das bisweilen unerträgliche Unbehagen, sondern befreit „Was wir fürchten“ letztlich auch von dem Zwang, die vielen losen Enden in der letzten Folge künstlich zusammenführen und erklären zu müssen, um einen hektischen Schlusspunkt zu finden. Handlung und Spannung werden nur teilweise aufgelöst, aber das ist alles andere als ein Defizit, denn all das fällt zugunsten der Figuren aus: Die Frage ist letztlich nicht, ob Lisa tatsächlich ins Totenreich schauen kann und wie plausibel das ist, sondern dass sie selbst nicht mehr das Gefühl hat, sich verstecken zu müssen, weil sie anders ist.

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