Notizen für einen Film

Filmessay | Chile 2021 | 91 Minuten

Regie: Ignacio Agüero

Der junge belgische Ingenieur Gustave Verniory erhielt 1889 den Auftrag, beim Bau einer Eisenbahnlinie durch die chilenische Region Araukanien mitzuwirken. Das Gebiet war kurz zuvor vom Staat annektiert und damit den indigenen Mapuche weggenommen worden. Auf Grundlage von Verniorys Briefen, die er an seine Familie schrieb, nähert sich der Filmessay den historischen Umständen an, stellt die Sprachen von Kolonialisten und Indigenen nebeneinander und sucht Bezugspunkte zur Gegenwart. Das in strengem Schwarz-weiß gefilmte, leise erzählte Werk reist nicht nur immer wieder durch die Zeit, sondern stellt den Prozess des Filmens auch selbst aus. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
NOTAS PARA UNA PELÍCULA
Produktionsland
Chile
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Ignacio Agüero y Asoc./Fulgurance
Regie
Ignacio Agüero
Buch
Ignacio Agüero
Kamera
David Bravo
Schnitt
Jacques Comets · Ignacio Agüero · Claudio Aguilar
Darsteller
Alexis Mespreuve (Gustave Verniory)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Filmessay
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Vielsprachiger Filmessay über den belgischen Ingenieur Gustave Verniory, der 1889 den Eisenbahnbau in der chilenischen Region Araukanien begleitet und mit dem Unrecht gegenüber den indigenen Mapuche konfrontiert wird.

Diskussion

Araukanien, das klingt nach Märchenland, nach Utopie, nach einem fernen Garten Eden. Doch es gab diesen Ort wirklich. Zwar nie als eigenständigen Staat, aber doch als Heimat und Wirkungsstätte der Mapuche. Heute liegt die Region zum großen Teil im Süden Chiles, ein kleiner Teil erstreckt sich nach Argentinien. Ein paar hunderttausend Mapuche leben hier noch. Als der junge belgische Ingenieur Gustave Verniory 1889 dort eintrifft, soll er beim Bau einer Eisenbahnlinie mithelfen. Er trifft auf kauzige Kollegen, auf eine exotische Dschungelwelt, die ihn emotional völlig in Beschlag nimmt – und auf die Mapuche.

An dieser Stelle sind die Bilder des essayistischen, in strengem Schwarz-weiß fotografierten Werks „Notizen für einen Film“ von Ignacio Agüero noch historisch verortet. Doch je länger der Film dauert, desto freier gerät seine Form. Denn obgleich der chilenische Regisseur als Ausgangspunkt Verniorys in den 1930er-Jahren niedergeschriebene Erinnerungen „Dix années en Araucanie (1889-1899)“ wählt, so stellt er doch immer wieder Bezüge zur Gegenwart her. Moderne Kommunikationsmittel wie WhatsApp spielen dabei eine Rolle, ohne dass dies aufgezwungen wirken würde. Agüero reflektiert durchgängig den Produktionsprozess, wenn er etwa dem Verniory-Darsteller Alexis Mespreuve vor der Kamera Anweisungen erteilt, wie er seinen Text sprechen soll.

Französisch, Spanisch und Mapudungun

„Notizen für einen Film“ ist vielsprachig. Französisch sind die Briefe, die Verniory an seine Familie in Belgien schreibt, die ihn um kuriose Mitbringsel (Lamas und Papageien) bittet. Verniorys erinnerte Beschreibungen werden von einem spanischen Muttersprachler vorgetragen. Wenn Alexis Mespreuve vor der Kamera spricht, klingt sein ohne gerolltes R gesprochenes Spanisch erkennbar französisch eingefärbt. Am einprägsamsten ist aber Mapudungun, die bedrohte Sprache der Mapuche, von denen heute noch ein paar Hunderttausend leben. In einer langen halbdokumentarischen Sequenz berichtet einer von ihren von der Geschichte ihrer Entrechtung. Der von Mespreuve gespielte Verniory ist hier zwar nur am Rand zu sehen, aber doch gut erkennbar. Er ist nicht nur der Protagonist dieses Films, sondern spukt als Geist auch durch ihn hindurch; wie in einem Wimmelbild sucht man ihn dauernd und entdeckt ihn anhand seines blassen Äußeren.

Verniorys Ankunft fällt in eine Zeit, in der die Mapuche gerade unterworfen worden sind. Das Königreich Araukanien mit seinem schillernden Regenten Orélie Antonie de Tounens, der sich als Beschützer der Kultur der Mapuche verstand, ist ebenfalls Geschichte. Die Mapuche werden von der Armee rekrutiert und in den neu entstehenden Fabriken ausgebeutet. Immer wieder kommt es zu kleineren Aufständen, die brutal niedergeschlagen werden. Auch Alkohol wird von den Chilenen, nach schlimmer Kolonialisten-Manier, als Waffe eingesetzt. Eine gigantische Umweltzerstörung setzt ein, die bis heute andauert.

Fasziniert von Natur und Menschen

Verniory ist fasziniert von der Natur, aber auch von den Menschen. Seine Begegnungen mit den Einheimischen wirken harmonisch. Sie scheinen keinerlei Groll gegen ihn zu hegen. Dabei trägt der Ingenieur mit seiner Arbeit zur Zerstörung der Landschaft bei, welche die Chilenen mitsamt der Bevölkerung gerade unterworfen haben. Das stumme Einverständnis mag erstaunen. Doch immerhin interessiert sich Verniory für sie, erkennt in ihnen, anders als viele seiner westlichen Zeitgenossen, gleichrangige Menschen und keine niederen Wesen.

Als Verniory begann, seine beim Bau der chilenischen Eisenbahn entstandenen Aufzeichnungen zu verfassen, fand er ein von Urwald überwuchertes, faszinierendes Land vor. Bei seiner Rückkehr aber, so notiert er bitter, hatte die Banalität Einzug erhalten. Dem modernen Menschen dienstbar gemachte, einförmige Landstriche. Der Fortschritt ebnet wie eine gigantische Planierraupe alles ein. Eine ernüchternde Botschaft dieses leisen, klugen Films.

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