Ein Schweigen - Un Silence

Drama | Belgien/Frankreich/Luxemburg 2023 | 96 Minuten

Regie: Joachim Lafosse

Die Frau eines bekannten Rechtsanwalts, der durch einen Fall von Kindesentführung und -missbrauch im Fokus der Medien steht, hat dreißig Jahre lang über ein Familiengeheimnis geschwiegen. Als der innere wie äußere Druck auf die Familie wächst, beginnt ihre Fassade zu bröckeln. In loser Anlehnung an die Affäre um den Lütticher Rechtsanwalt Victor Hissel, der einige Opferfamilien im Fall des Kinderschänders Marc Dutroux vertrat, entfaltet sich ein puzzleartiges Drama um Schuld, Scham, Verdrängung und Verleugnung. Auch wenn manche Handlungsstränge etwas verkürzt wirken, überzeugt vor allem die Darstellerin der Ehefrau, deren innere Prozesse in einem subtilen Körperspiel zum Ausdruck kommen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UN SILENCE
Produktionsland
Belgien/Frankreich/Luxemburg
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Stenola Prod./Samsa Film/Les Films du Losange/Prime Time
Regie
Joachim Lafosse
Buch
Chloé Duponchelle · Paul Ismael · Joachim Lafosse · Thomas van Zuylen
Kamera
Jean-François Hensgens
Schnitt
Damien Keyeux
Darsteller
Daniel Auteuil (François Schaar) · Emmanuelle Devos (Astrid Schaar) · Matthieu Galoux (Raphaël Schaar) · Jeanne Cherhal (Inspektorin Colin) · Louise Chevillotte (Caroline)
Länge
96 Minuten
Kinostart
13.06.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Drama um die Familie eines Anwalts, in der dunkle Geheimnisse ans Tageslicht drängen, als der Jurist in einen Prozess um einen Serienkiller verwickelt wird.

Diskussion

Astrids Körper ist ihrem Bewusstsein immer ein paar Schritte voraus. Einmal liegt sie im Halbschlaf scheinbar friedlich auf einer Sonnenliege, als sie plötzlich von einem tiefen Schluchzen erfasst wird. Die anfallartige Erschütterung dauert nur wenige Sekunden, und schon hat Astrid (Emmanuelle Devos) ihre Fassung wieder gefunden. In der losen Adaption eines spektakulären Falls der belgischen Justizgeschichte kommt das innere Drama, das sich in dieser Frau abspielt, durch ein im Kleinen ereignisreichen Körperspiel zum Ausdruck. Ein kaum wahrnehmbares Zucken der Mundwinkel, ein erschrecktes Flackern der Augen, eine fahrige Bewegung, der etwas zu eiliger Schritt.

Alle haben es gewusst

Über mehr als dreißig Jahre hat Astrid gelernt, ihre inneren Regungen zu kontrollieren und das Bild einer sauberen bürgerlichen Familie aufrechtzuerhalten. „Ein Schweigen“ von Joachim Lafosse erzählt von den unaufhaltsamen Erosionen dieser mühsam errichteten Fassade.

„Ich habe nie etwas gesagt. Alle haben es gewusst.“ Während eines Verhörs zu Beginn des Films hört man ein Geständnis, doch die Hintergründe lässt Lafosse bewusst im Unklaren. Von einer Tat ausgehend, dem versuchten Mord von Astrids Sohn Raphael (Matthieu Galoux) an seinem Vater François (Daniel Auteuil), entfaltet sich eine Geschichte um Schuld, Scham, Verdrängung und Verleugnung.

Der bekannte Rechtsanwalt François steht durch seine Arbeit an einem besonders gewalttätigen Fall von Kindesentführung und Pädophilie in der medialen Öffentlichkeit. In seiner Funktion als Verteidiger der Opferfamilie ist er regelmäßig im Fernsehen zu sehen. In Interviews prangert er das Versagen der Behörden an, spricht moralische Appelle aus und zeigt tiefe Betroffenheit.

Was sich hinter dieser Schauseite im Inneren des Familiengefüges verbirgt, legt der Film Stück für Stück frei. Astrid liegt wach im Bett, als ihr Mann nachts das Schlafzimmer verlässt. Das Ehepaar weicht sich aus, der verwöhnte Adoptivsohn Raphael wirkt haltlos. Familienrituale wie gemeinsame Essen werden aufrechterhalten, und doch herrscht eine Atmosphäre des Misstrauens und des Verdachts.

Der Film nimmt sich Zeit für Details

Der Bildgestalter Jean-François Hensgens folgt den Figuren unaufdringlich; oft verharrt die Kamera auf Türschwellen und zeigt das Geschehen aus der Distanz. Lafosse nimmt sich Zeit für sein Puzzle.

Von Anfang an klar ist hingegen, dass François’ Computer ein Zentrum der Beunruhigung ist. Astrid öffnet ihn heimlich, und auch Raphael wird bezichtigt, ihn unerlaubt benutzt zu haben. Als Astrid verstecktes Datenmaterial in der Mülltonne entsorgt, und ihre Tochter ihr mitteilt, dass ihr älterer Bruder Pierre den Vater wegen der dreißig Jahre zurückliegenden Vergewaltigung anzeigen will, beginnt sich das Bild zu vervollständigen.

„Das Schweigen“ spielt auf die sogenannte „Hissel-Affäre“ an. Der Lütticher Rechtsanwalt Victor Hissel, der im Fall um den belgischen Mörder und Sexualstraftäter Marc Dutroux mit dem Rechtsbeistand einiger Familien betraut war, wurde einige Zeit später selbst wegen des Besitzes von kinderpornografischem Material verurteilt und schließlich von seinem Sohn niedergestochen. Das ist viel Stoff für einen Film, und nicht immer gelingt es Lafosse, die verschiedenen Stränge und Interessen zusammenzuführen.

Astrids innerer Prozess, ihr allmähliches Aufgeben ihrer Loyalität, trägt den Film wesentlich. Lange schützt sie ihren Mann gegenüber den Kindern, bagatellisiert das Verbrechen als „eine Geschichte“ (une histoire), in der der Vater sei zu weit gegangen sei: „Es ist vorbei, das Leben geht weiter.“ Sie hat nicht nur ihre eigene Scham der Mitwisserschaft zu überwinden; sie muss sich auch gegen einen patriarchalen Mann behaupten, der beständig an die Unterstützung seiner Familie gemahnt und zwischen schuldhafter Selbstbezichtigung und Verleugnung schwankt. Er habe alles gemacht, um es wieder „in Ordnung zu bringen“, erklärt er seiner Familie. Als ihm die Ermittler auf die Spur kommen und belastendes Material auf seinem Computer finden, verweist er auf den Gebrauch im Zuge seiner Ermittlungen und leugnet vehement seine Täterschaft. Im letzten Teil rückt Raphael ins Zentrum der Erzählung. Die Zusammenhänge, die zu seiner Tat führen, wirken ebenso wie der Missbrauch an dem älteren Sohn etwas verkürzt.

Die Beschädigung wirken weiter

Dennoch entwickelt sich „Ein Schweigen“ im letzten Teil zu einem intensiven Thrillerstück. In verschiedenen Zimmern finden parallel die Verhöre mit Astrid, Raphael und François statt. Eine Ermittlerin wechselt zwischen den Räumen und führt die Übereinstimmungen und Widersprüche zu so etwas wie Wahrheit zusammen. Doch weder führt das zu Gerechtigkeit, noch bringt sie etwas „in Ordnung“, denn auch mit Astrids Offenlegung lassen sich die Beschädigungen nicht rückgängig machen. Lafosse verurteilt seine Figuren nicht, aber er zeigt sie in ihren Verstrickungen und Selbstlügen, und, was vielleicht das Erschreckendste ist, was sie durch ihr Erbe an weiteren Zerstörungen anrichten.

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