Drama | Deutschland 2023 | 115 Minuten

Regie: Sylke Enders

Eine angehende Brandenburger Journalistin gelangt 1997 an das Foto einer ehemaligen KZ-Aufseherin. Sie sucht die betagte Frau auf, die auch bereitwillig zu erzählen beginnt, obwohl ihre Familie ihr Schweigen anbefohlen hat. Mehr und mehr jedoch treten für die junge Reporterin hinter der vermeintlich „heißen“ Story die Parallelen zur eigenen Familiengeschichte hervor. Ein um vererbte Traumata und die trübe Stimmung in der Nachwendezeit kreisendes Drama, das in seinen Spiegelungen und der allgemeinen Konstruiertheit eher theaterhaft bleibt. Trotz guter Darsteller sind auch die Figuren nicht ausgefeilt genug, um mehr als Stellvertreter für Standpunkte zu sein. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Czar Film/Joroni Film
Regie
Sylke Enders
Buch
Sylke Enders
Kamera
Jakob Wehrmann
Musik
Bert Wrede
Schnitt
Sebastian Lempe
Darsteller
Mareike Beykirch (Johanna Schreier) · Lore Stefanek (Anneliese Deckert) · Michaela Caspar (Hedi Deckert) · Margarethe Tiesel (Renate Deckert) · Lina Wendel (Helge Schreier)
Länge
115 Minuten
Kinostart
28.09.2023
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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Drama um eine junge Brandenburger Journalistin, die in der tristen Nachwendezeit auf eine frühere KZ-Aufseherin stößt und die betagte Frau aushorchen will.

Diskussion

Was für ein Auftakt! Ein Autohaus, schlecht beheizt, irgendwo im brandenburgischen Nirgendwo. Dazu ein Verkäufer, Herr Fleischhauer, der komplett fehl am Platz zu sein scheint. Später wird Johanna (Mareike Beykirch), Anfang dreißig und angehende Journalistin, in diesem Autohaus „sexy“ Fotos für einen Werbeprospekt des Autohauses schießen. Junge Frauen in Badekleidung vor gebrauchten Autos. Aber vielleicht werden diese Fotos auch nur für den Besitzer des Autohauses gemacht, denn die Fotografin wird vom Verkäufer darauf hingewiesen, dass der Chef gerne Chantal sehen möchte. „Die mit dem Zopf!“

Doch das Versprechen auf eine abgründige Pop-Provinzkomödie löst „Schlamassel“, der neue Film von „Kroko“-Regisseurin Sylke Enders, danach leider nicht ein. Denn die Besichtigung des Ortes für das geplante Shooting fällt kürzer aus als gedacht, Johanna erfährt per Telefon vom Tod der geliebten Großmutter. Stellvertretend für ihren Teil der Familie nimmt Johanna am Begräbnis der Großmutter teil und nutzt die Gelegenheit, ihren Onkel vor versammelter Trauergemeinde als Erbschleicher zu beschimpfen. Anschließend bricht sie in die Wohnung der Großmutter ein und „klaut“ ein Luftgewehr, das in Wahrheit ihr gehört.

Pöbeln und kollektives Beschweigen

„Schlamassel“ spielt 1997. In der ehemaligen DDR herrscht vorrangig schlechte Laune, die sich auf unterschiedliche Weisen Luft macht. Vorzugsweise wird nicht geredet, sondern geschrien, geschimpft und gepöbelt. Immer mal wieder laufen auch Neonazis an der Kamera vorbei und verteilen Kopfnüsse. Schäferhunde heißen „Blondie“. Ganz Brandenburg scheint im „Schlamassel“ zu stecken, doch Sylke Enders’ Film ist mehr als ein Ausstattungsfilm, der ganz gegenwärtig von der Verfahrenheit der Vergangenheit erzählt. Viel schlimmer als das Pöbeln ist nämlich das kollektive Beschweigen von Konflikten unter Menschen, die sich auf die eine oder andere Weise als Zukurzgekommene empfinden. Etwa die hochbetagte Anneliese Deckert (Lore Stefanek), die gerne ihre Dienstjahre als KZ-Aufseherin auf ihre Rente angerechnet hätte. Aber in ihrer Familie wird darüber nicht geredet. Anneliese Deckert soll nichts erzählen, weil es nichts zu erzählen gibt.

Johanna erfährt zufällig von der Existenz Anneliese Deckerts, weil unter Jugendlichen ein Foto von ihr in Uniform mit Schäferhund an der Seite kursiert. Man könnte meinen, dass die angehende Journalistin und Gelegenheitsfotografin Johanna eine Geschichte wittert, aber Johanna ist viel zu sehr mit sich beschäftigt, um journalistischen Instinkt zu spüren. Als Jugendliche hat ein Diebstahlsdelikt ihr die Ausbildung zum Lehramt verhagelt. Jetzt lebt sie unter prekären Bedingungen und hat so viel Wut im Bauch, dass sie unter einer Schuppenflechte leidet. Bei der Zeitung traut man ihr nicht viel zu – und dann ist da ja noch das vergiftete Klima in der Familie, das sich dem wortlos verweigerten Erbe der Großmutter verdankt. Denn der zu Beginn als Erbschleicher beschimpfte Onkel wurde von der Großmutter durch eine vorzeitige Schenkung bedacht, was allerdings von ihr nicht kommuniziert wurde. Obwohl doch die ums Erbe gebrachte Mutter die eigene Mutter so aufopferungsvoll gepflegt hatte. Warum sie ihre Kinder so unterschiedlich bedachte, blieb ein Geheimnis, das sie mit ins Grab nahm.

Selbstentschuldigung und Selbstmitleid

Folgt man Sylke Enders’ Ausführungen im Pressematerial, dann geht es in „Schlamassel“ um familiäre Traumata, die nicht kommunikativ bearbeitet werden, sondern durch Verweigerung von wirklichen Auseinandersetzungen „vererbt“ werden. Und genau hier kommt Anneliese Deckert ins Spiel, die von Johanna unter einem Vorwand besucht wird, weil sie vielleicht als Gegenstand einer „Story“ taugen könnte. Hier sind die Positionen vermeintlich klar: einerseits die NS-Täterin, der die Familie Schweigen anbefohlen hat, dort die Journalistin, die unbequeme Fragen stellt. Sollte es diese Rechnung gegeben haben, so geht sie nicht auf. Stattdessen spiegelt sich Johannas Familiengeschichte in der von Anneliese. Die alte Frau beginnt zu erzählen, allerdings mischt sich dabei Monströses mit Banalem zu einem Flow aus Selbstentschuldigung und Selbstmitleid.

Wenn Annelieses Schwester gegen Bevormundung aufbegehrt, wenn Johanna sich am Schluss des Films im „Umbau“ wähnt, scheint das etwas zu aufgesetzt optimistisch. „Schlamassel“ selbst verharrt nämlich zwischen theaterhafter Konstruktion der komplexen Familienaufstellung (nebst dem expliziten Vertrauen auf die Sprachmächtigkeit der Akteure) und dem Flair von Milieu-Authentizität (verbockt und vernuschelt). Wären da nicht die darstellerischen Leistungen der Protagonisten, müsste dem Film wohl der Eindruck des Thesenhaften, des Nachgestellten und bloß Gewollten angekreidet werden. Wobei das bloß Gewollte in den Figuren durchaus angelegt ist. Als Mangel.

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