My Name Is Alfred Hitchcock

Dokumentarisches Porträt | Großbritannien 2022 | 120 Minuten

Regie: Mark Cousins

Der irische Filmkritiker und -historiker Mark Cousins widmet sich in sechs Kapiteln dem Werk des britischen Suspense-Meisters Alfred Hitchcock und fächert dessen cineastischen Kosmos auf. Über Ausschnitte aus Hitchcocks Filmen, mit dazwischen geschnittenen Fotoaufnahmen des Regisseurs, nimmt sich Cousins insbesondere das britische Frühwerk und eher als Nebenwerke geltende Arbeiten vor. Indem er seine Kommentare einem Hitchcock-Imitator in den Mund legt, unterlaufen ihm mitunter auch schwächere Deutungen und Leerstellen, alles in allem gelingt aber eine substanzielle Auseinandersetzung, die das Naheliegende vermeidet und Überraschungen bereithält. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MY NAME IS ALFRED HITCHCOCK
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Hopscotch Films
Regie
Mark Cousins
Buch
Mark Cousins
Kamera
Mark Cousins
Musik
Donna McKevitt
Schnitt
Mark Cousins
Länge
120 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarisches Porträt | Künstlerporträt
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Ein filmischer Essay in sechs Kapiteln über das Werk des legendären Spannungsregisseurs.

Diskussion

„Meine Kamera ist eine Zeitmaschine“, lässt Mark Cousins in seinem Dokumentarfilm um das Werk von Alfred Hitchcock den berühmten Filmregisseur konstatieren. Tatsächlich sind viele Hitchcock-Filme immer noch auf Zeitreise. „Eine Dame verschwindet“, „Berüchtigt“, „Das Fenster zum Hof“, „Frenzy“ und andere Thriller bleiben hochgeschätzt, ihr Humor zündet noch, ihre Spannungsbögen tragen, selbst dann, wenn man die Filme schon zigmal gesehen hat.

Der nordirische, auf Filmgeschichte spezialisierte Filmemacher Mark Cousins trägt in „My Name Is Alfred Hitchcock“ eine Reihe von Gründen zusammen, warum der Hitchcock-Touch uns auch im 21. Jahrhundert noch berührt. Sein Film besteht im Kern aus Ausschnitten aus Filmen des Meisters, wobei Cousins das wenig geläufige britische Frühwerk des Regisseurs hervorhebt und ansonsten den Klassikern die (bei Hitchcock immer interessanten) Nebenwerke vorzieht.

Ein Essay in sechs Kapiteln

Anlass für den Dokumentarfilm war der 100. Geburtstag der ersten Regiearbeit des 23-jährigen Angestellten einer Londoner Tochterfirma des Hollywoodstudios Paramount: „Number 13“ wurde 1922 gedreht, blieb allerdings unvollendet. Cousins gliedert sein Hitchcock-Essay in sechs Kapitel – mit teils sofort einleuchtenden, teils unvorhersehbaren Überschriften: Flucht, Begehren, Einsamkeit, Zeit, Erfüllung, Höhe.

Das finale Kapitel „Height“ bietet gute Beispiel dafür, wie Cousins das Naheliegende meidet und wirklich überraschende Einsichten bereithält. Man könnte erwarten, dass der von Höhenangst geplagte Protagonist aus „Vertigo“ Pate für diesen Abschnitt gestanden hat – doch „Vertigo“ kommt hier nicht vor. Stattdessen erinnert Cousins an Hitchcocks Lieblings-Urlaubsort St. Moritz und zeigt ein Foto des beleibten Regisseurs, der seinen Blick vom Hotelbalkon aus über ein Alpenpanorama schweifen lässt. Es geht hier um Souveränität und die hohe Kunst des visuellen Erzählens. In besonderen Filmmomenten brachte Hitchcock die Kamera in erhöhte Position. Zum Beispiel, wenn er einen winzigen Paul Newman über den Mosaikboden der Ostberliner Nationalgalerie schreiten ließ – gefilmt gleichsam durch die Augen von „Big Brother“, schließlich steht Newman während seines DDR-Trips unter Dauerüberwachung.

Ebenfalls aus „Der zerrissene Vorhang“ stammt die grauenvolle Aufsicht auf Wolfgang Kieling als Stasi-Agent, der von Newman und einer Bäuerin gerade in einem Gasofen erstickt wird. Aufgrund der Perspektive sehen wir nur die zuckenden Hände des Sterbenden, der hier in der Luft den Jazz spielt – so legt es der Kommentar nahe –, den er einst als nach New York beorderter Agent so lieben gelernt hatte.

Eine täuschend echte Imitation

Die Interpretation leuchtet ein – und passt zu Hitchcocks mitunter tiefschwarzem Humor. Vielleicht stammt sie auch vom Regisseur selbst, das ist in diesem wie in vielen anderen Fällen nicht klar. Allerdings erlaubt sich Cousins, sämtliche von ihm verfasste Kommentare in „My Name Is Alfred Hitchcock“ von einem Hitchcock-Imitator sprechen zu lassen (während er auf der visuellen Ebene nur Fotos von Hitchcock zeigt, mit der Ausnahme des Hotelflur-Cameos aus „Marnie“). Der britische Schauspieler Alistair McGowan kriegt das mitsamt Timbre, Tonfall, britisch-kalifornischem Akzent und geräuschvollen Einatmern so gut hin, dass die Illusion, Hitchcock würde aus dem Jenseits zu seinem heutigen Publikum sprechen, fast perfekt ist.

„Sie haben mir nach meinem Tod dieses Denkmal gesetzt“, hört man Sir Alfred sagen, während man anfangs seinen riesigen, aus dem Garten eines Londoner Wohnprojekts aufragenden Bronzekopf sieht. „Ich sehe aus wie der Buddha des Kinos“, brummt die unverwechselbare Stimme des Master of Suspense. Andere Clips, die das Phänomen Hitchcock mit der heutigen Zeit vernetzen, wären verzichtbar gewesen. Cousins zeigt eine junge Frau, die Adressatin seiner Reden sein könnte. Ebenso ist ein junger Mann zu sehen, der den Blick kaum von seinem Smartphone lösen kann: Umso erstaunlicher, dass Hitchcock angesichts der heutigen medialen Fülle und Beschleunigung noch sein Publikum findet, scheinen diese Einschübe zu sagen, unnötigerweise.

Hitchcock will unseren Herzschlag kontrollieren

Substanzieller sind Cousins’ Erkenntnisse im Kapitel „Time“. Der programmatische Clip zeigt den – noch unerkannten – Mörder Farley Granger, der in „Cocktail für eine Leiche“ von James Stewart gleichsam auf die Folter gespannt wird. Granger spielt Poulencs „Mouvement perpétuel III“ auf dem Klavier, Stewart, der dem Verbrechen schon auf der Spur ist, lässt ein Metronom in mäßigerem Tempo klicken. „Wenn deine Figur die Zeit beschleunigen will – verlangsame sie“, sagt „Hitchcock“, der sich daran erinnert, wie ihm als 74-Jährigen ein Herzschrittmacher eingesetzt wurde. Wie das Gerät seinen Herzmuskel kontrolliere, will Hitchcock unseren Herzschlag kontrollieren. Der wirkliche Hitchcock sprach davon, auf seinem Publikum wie auf einer Orgel zu spielen.

Cousins’ Film zeigt uns, wie der Künstler Hitchcock „tickt“. Dass er der Kinolegende dabei erfundene oder halbfiktive Sätze in den Mund legt, tut der Sache keinen Abbruch – im Gegenteil, denn Hitchcock selbst wusste, dass Geschichtenerzähler und Trickster (wie er) die tiefsten Wahrheiten zutage fördern. Den menschlichen Abgründen des Regisseurs, der speziell seine Darstellerinnen drangsalierte – vor allem Tippi Hedren hat nach Hitchcocks Tod Verstörendes berichtet – widmet sich Cousins nicht. Es könnte sein, dass uns immer noch die Sprache dafür fehlt, das Großartige zu feiern, ohne die menschlichen Schwächen zu ignorieren.

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