Für Fragen, die nicht beantwortet werden können, braucht es Theorien. Um diese zu belegen, sind Daten nötig. Wenn es keine Daten gibt, kommt ein Platzhalter ins Spiel für das, was noch nicht bewiesen werden kann. Die Physik erfindet dazu dann eben Teilchen, Strings oder die Singularität. Kleine, zu beweisende (und nicht selten in der Zukunft bewiesene) Lückenfüller für die großen, weltbegreifenden Narrative.
Das Kino von Justin Benson und Aaron Moorhead bringt Phänomene auf die Welt, zu denen es keine Daten gibt, für die keine Theorien existieren und die am Fundament des physikalischen Weltverständnisses und damit am Verstand der armen Seelen kratzen, die ihnen begegnen. Diese Phänomene, die sich in ihrem Erstlingswerk „Resolution“ (2012) und in „The Endless“ (2017) als Variante des kosmischen Grauens à la H.P. Lovecraft präsentieren, kommen mit „Something in the Dirt“ im Zeitalter der Social-Media-Echokammern und anderer Multiplikatoren des global vernetzten Quatsches an.
Im Fall des Protagonisten-Duos, das von den Regisseuren selbst gespielt wird, bräuchte es wohl gar keinen Horror kosmischen Ausmaßes und keine fremdartige Kraft, die jene Gesetze der Physik aushebelt, die man für unumstößlich hält. Denn die Realität der Loser-Archetypen John (Moorhead) und Levi (Benson) gerät bereits im Angesicht der prosaischen Herausforderungen, die das moderne Leben in Los Angeles stellt, ins Wanken.
Etwas rüttelt an der Schwerkraft
„Something in the Dirt“ ist ein Film, der sich um die Angst vor dem Unbegreiflichen dreht, mit zwei Protagonisten, die überhaupt nur sehr wenig begreifen. John hat kürzlich seine Ehe in den Sand gesetzt. Jetzt versucht er sich als Fotograf durchzuschlagen, hält sich aber nur mit den Almosen seines Ex-Mannes über Wasser. Levi lebt buchstäblich auf Bewährung, da er seine kriminelle Vergangenheit und die gegenwärtigen Trinkgewohnheiten nie ganz abschütteln konnte. Er spricht John vor dem Apartment an und schnorrt eine Zigarette. Sein Beitrag zur guten Nachbarschaft ist ein gläserner Aschenbecher, den die Vormieterinnen hinterlassen haben. Im kristallfarbenen Körper des Designerstücks wird das Phänomen als erstes sichtbar: etwas Unsagbares spiegelt sich darin, leuchtet auf, rüttelt an der Schwerkraft und stellt die Welt in Frage.
Es ist der Coup des Films, dass sich die kosmischen Kräfte nicht einem hochbegabten Astrophysiker offenbaren, sondern den Dullis aus dem ersten Stock. Was passiert also, wenn es diese zwei sind, die als erste Zeugen eines Ereignisses werden, das das Fundament des gängigen Weltverständnisses aushebelt? Es wird ein Film gedreht! John und Levi versuchen Profit aus der Anomalie zu schlagen. Ein Dokumentarfilm erscheint ihnen als die beste Möglichkeit, die Entdeckung an die Öffentlichkeit zu bringen und im Zuge dessen reich und berühmt zu werden.
Benson und Moorhead machen den kosmischen Schrecken also nicht nur auf der diegetischen, sondern auch auf der Meta-Ebene zu Kunst. Ihre Alter Egos versuchen sich auf ihre eigene Art als Wissenschaftler: Sie stellen Theorien auf, sammeln Daten und finden Platzhalter für das Unerklärte. Ihre Platzhalter sind Geschichten. Sie fabulieren die Pythagoräer in das Phänomen hinein, entdecken die Zahl 1908 in allen sie umgebenden Mustern wieder, schlachten GPS-, Geburts- und Kalenderdaten für ihre Theorien aus und verlieren sich im „Rabbit Hole“ der paranormalen Erfahrung.
So beängstigend wie lächerlich
Das Duo kauft Equipment, um die Wohnung zu überwachen. Das eigene Leben wird auf Pflichttermine reduziert, um mehr Zeit für Beobachtungen zu haben. Wieder und wieder beginnt das, was Levi für einen Aschenbecher hielt, im Raum zu schweben. An der Zimmerpflanze bildet sich ein Pilz, in den Raumecken stehen plötzlich seltsam schimmernde Steine. Levi bringt zunehmend weniger Gewicht auf die Waage. All das passiert wirklich, ist aber eben nur zum Teil übernatürlich. Dennoch: Was hier übernatürlich ist, offenbart sich als so fremd und unfassbar, dass es als Schrecken begriffen werden muss.
„Something in the Dirt“ verortet sich genau zwischen den beiden Extremen, die das Phänomen und seine Wahrnehmung hervorbringen. Der Film ist beängstigend und lächerlich in allen Kombinationen, die diese Begriffe zulassen. Die dazugehörigen Bilder sind aschfahl, digital und trist. Eine gänzlich unspektakuläre Illustration der Apokalypse, die so sichtbar im Hintergrund lauert, dass man sie als Bedrohung gar nicht ernst nehmen möchte, aber zunehmend ernst nehmen muss.
Während John und Levi im selbstauferlegten Lockdown Material sammeln, brennen in der Peripherie die Berge von Los Angeles. In der Einflugschneise, die direkt über dem Apartment liegt, kommen Passagiermaschinen mehr und mehr ins Trudeln; die Erscheinung im Apartment greift nach der Welt.
„Heutzutage ist alles Akte X, schätze ich“, resümiert Levi über die neue Gegenwart, die der Film mit den kurz hineingeschnittenen Heimvideo-Aufnahmen aus der Kindheit abgleicht. Die körnigen 8mm-Erinnerungen sind mehr als ein Gimmick. So sehr der staubtrockene Humor die Wirklichkeit dieses Films in eine Art lovecraftsche „Mockumentary“ verwandelt, ist „Something in The Dirt“ deutlich mehr als das lustvolle Beobachten zweier Kleinhirne bei der Kernschmelze.
Die Suche nach Freundschaft
Benson und Moorhead haben einen zärtlichen Film gedreht. Der kosmische Quatsch, in den das kosmische Grauen verwandelt wird, ist eine große Metapher der Einsamkeit. Was die einsamen Seelen im „Rabbit Hole“ der Verschwörungstheorien suchen, ist Freundschaft. Etwas, was das Leben da draußen, das beide weitestgehend zu ignorieren versuchen, ihnen nicht bieten will. Solange tatsächlich etwas im titelgebenden Dreck verborgen liegt, haben sie einander und einen guten Grund, aneinander festzuhalten. Solange es etwas gibt, was alle bekannten Naturgesetze aushebelt, können sich zwei Menschen an ihre Theorien klammern. Und aneinander.