Irre oder der Hahn ist tot
Dokumentarfilm | Deutschland 2021 | 78 Minuten
Regie: Reinhild Dettmer-Finke
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2021
- Produktionsfirma
- Behring Film und Klotz Media/defi-fimproduktion
- Regie
- Reinhild Dettmer-Finke
- Buch
- Reinhild Dettmer-Finke
- Kamera
- Ingo Behring
- Musik
- Simone Hering · Markus Zwielich · Sarah Di Balsio · Lorenz Buchholz
- Schnitt
- Mike Schlömer
- Länge
- 78 Minuten
- Kinostart
- 13.07.2023
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- TMDB
Doku über Menschen, die regelmäßig eine Anlaufstelle für psychisch erkrankte Menschen in Freiburg aufsuchen.
Man könnte meinen, dass der Mann geradewegs von einer Theaterperformance oder gleich von einem anderen Stern kommt. Angetan mit einer gelben Warnweste, einer Rotkäppchen-Mütze und gleich zwei Blindenarmbinden lässt er sich Essen in einen mitgebrachte Kunststoffbecher abfüllen und erzählt dabei aus seinem Leben. Früher sei er mal Fahrlehrer gewesen und habe gutes Geld verdient; heute habe er nur noch ein „erniedrigendes Einkommen“. Der Mann ist anscheinend stark sehbehindert, aber keineswegs blind. Als er sich mit einem Lächeln verabschiedet, schaut er sich um und sagt noch: „Ich hoffe, ich habe nichts liegen lassen außer einen guten Eindruck.“
Wenig später sitzt der Mann, der eben das Essen ausgegeben hat, auf einer Bank und erzählt, dass er einst Briefträger war, aber irgendwann den Job nicht mehr geschafft hat. Dann sei er von Depressionen und Epilepsie heimgesucht und schließlich ganz aus der Bahn geworfen worden. Jetzt sieht er sich als eine Art Mittelsmann zwischen den Sozialarbeitern und den Besuchern der Freiburger Hilfsgemeinschaft (FHG). Diese Einrichtung existiert bereits seit 50 Jahren und betreibt mitten in der Stadt eine Anlaufstelle für Menschen mit psychischen Erkrankungen.
„Fröhlich sein, Gutes tun“
Der Dokumentarfilm „Irre oder Der Hahn ist tot“ von Reinhild Dettmer-Finke porträtiert den Alltag in der FHG, vor allem aber rund ein Dutzend ihrer Besucher, die sich regelmäßig zum Mittagstisch einfinden oder in einem Clubraum ihre Freizeit verbringen. Da ist die alte Frau, die Bilder mit Gewaltszenen malt und von sich sagt, dass sie immer an Menschen geraten sei, die ihr nicht gutgetan hätten. Oder der ältere Mann, der regelmäßig mit einem Lächeln den Tisch deckt und sein Lebensmotto mit „Fröhlich sein, Gutes tun“ angibt.
Die Kamera beschränkt sich weitgehend darauf, das Geschehen in den Räumlichkeiten zu beobachten. Der Film verzichtet auf jeden Kommentar. Nur hie und da hört man die Filmemacherin im Off eine Nachfrage stellen. Zumeist erzählen die Protagonisten ihre Geschichten von sich aus. Wie viel Zeit dafür im Vorfeld nötig war, um ein Vertrauensverhältnis zu den Erkrankten herzustellen, lässt sich nur erahnen.
Nahezu alle Besucher des FHG haben einen oder mehrere Aufenthalte in einer Psychiatrie hinter sich. Die meisten in einer Einrichtung in der nahen Stadt Emmendingen, das in den Erzählungen nicht sonderlich gut wegkommt. Vor allem die Verabreichung von Psychopharmaka findet viel Kritik. In einer spontanen Gruppendiskussion finden sich aber auch einige Teilnehmer, die erklären, dass ihnen diese Medikamente in Extremsituationen durchaus geholfen hätten.
Kein Brief im Kasten
Die Kamera hält dabei nicht nur Gespräche fest, sondern setzt die Protagonisten in ruhigen Einstellungen auch dann ins Bild, wenn diese vor sich hin schweigen oder sich allein oder zu mehreren zum Rauchen auf dem Balkon aufhalten. Immer wieder gerät die Küche der Einrichtung ins Zentrum des Geschehens, in der immer etwas los ist. Hin und wieder huschen auch Personen durchs Bild, deren Gesichter unkenntlich gemacht werden, da sie offenbar nicht im Film erscheinen wollen.
Nur für eine einzige Sequenz verlässt die Dokumentation die Einrichtung, um einer Frau namens Sabine einen Besuch abzustatten. Die vitale Frau lebt im Rahmen eines Wohnprojekts und verarbeitet ihre Erlebnisse in eigenen Gedichten und Liedern. Eine der Aktionen, die sie offenbar aus Angst von unliebsamer Post nur in Gegenwart eines Besuchers durchführt, ist das Öffnen ihres Briefkastens. Sie jubelt geradezu auf, als sich einmal keine Post darin findet.
Bis auf den Betreuer kommen keine Experten oder festangestellte Mitarbeiter zu Wort, die allenfalls im Hintergrund zu sehen sind. Dafür verfügt der Film trotz seiner teils tragischen Biografien immer wieder auch über kurzweilige Momente. Etwa, wenn ein älterer Herr mit grauem Wallehaar bei einer Gesprächsrunde versucht, die Regie zu übernehmen und die Filmemacherin instruiert, welche Szene und Aussagen sie unbedingt aufnehmen müsse. Gegen Ende kommt auch der kauzige Typ vom Anfang nochmals vorbei.
„Irre oder Der Hahn ist tot“ ist einer der besseren Dokumentarfilme zum Thema psychische Erkrankungen und Inklusion.