Coming-of-Age-Film | USA 2023 | 211 (7 Folgen) Minuten

Regie: Boots Riley

Ein überdimensional großer afroamerikanischer Junge aus Oakland, Kalifornien ist von seinem Onkel und seiner Tante zeit seines Lebens vor der Welt versteckt worden, um ihn zu schützen. Mit 19 Jahren treibt es den jungen Riesen mit Macht, die Welt vor dem heimischen Gartenzaun zu erkunden und andere Menschen kennenzulernen. Dabei findet er Freunde, macht aber auch die Bekanntschaft mit struktureller Ungerechtigkeit. Die Serie mischt Elemente des Superheldengenres mit einer Coming-of-Age-Story und Satire zu einer mäandernden Reflexion rund um schwarze Identität und weiß geprägten Kapitalismus. Dass die Gesellschaftskritik dabei mitunter arg plakativ ausfällt, macht die Serie durch sympathisch handgemachten visuellen Witz und den emotionalen Drive einer schön-seltsamen „Origin Story“ wett. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
I'M A VIRGO
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Amazon Studios/Media Res Studio
Regie
Boots Riley
Buch
Boots Riley · Tze Chun
Kamera
Steve Annis · Eric Moynier
Musik
Tune-Yards
Schnitt
Saira Haider · Ron Rauch
Darsteller
Jharrel Jerome (Cootie) · Walton Goggins (The Hero) · Olivia Washington (Flora) · Kara Young (Jones) · Brett Gray (Felix)
Länge
211 (7 Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Coming-of-Age-Film | Fantasy | Serie

Eine Serien-Mischung aus Superheldenstory, Coming-of-Age-Komödie und antikapitalistischer Gesellschaftssatire rund um einen riesenhaften afroamerikanischen Jungen, der nach langer Isolation die Welt entdeckt.

Diskussion

Was für eine Erfahrung: Das erste Abtanzen in einem Club und die erste Musik aus einem Subwoofer, bei der einem „die Bässe durch den Körper fließen wie Wellen und machen, dass man den Boden und den Himmel gleichzeitig fühlt, als wäre man selbst derjenige, der sie zusammenhält“! Cootie (Jharrel Jerome) ist schon 19 Jahre alt, als er dieses denkwürdige erste Mal endlich erlebt. Dass ihn seine Erziehungsberechtigten, Onkel Martisse (Mike Epps) und Tante Lafrancine (Carmen Ejogo), vorher sein ganzes Kinder- und Teenieleben lang nicht nur von Musikclubs, sondern von allen öffentlichen Orten, anderen Menschen und generell dem Leben jenseits des heimischen Gartenzauns im kalifornischen Oakland rigoros versteckt hielten, hat indes gute Gründe. Denn Cootie ist kein normaler Teenager, sondern ein Riese. Das war er (aus nicht näher beleuchteten Gründen) schon als Baby; mittlerweile sprengt sein adoleszenter Körper das Familiendomizil und erfordert einen auf ihn zugeschnittenen Anbau im Garten. Martisse und Lafrancine fürchten, dass die Welt da draußen noch nicht reif sei für einen afroamerikanischen Jungen von solch imposantem Format. Der Onkel warnt Cootie an einer Stelle, man werde ihn unweigerlich als Bedrohung sehen oder als etwas, was man erst ausbeuten und dann beseitigen muss.

Viele erste Male warten auf den Riesenjungen

In der flirrenden Mischung aus Coming-of-Age-Serie, Superheldenstory und satirischer Gesellschaftskritik, die der 1971 geborene Rapper, Aktivist und Filmemacher Boots Riley in „I’m a Virgo“ anzettelt, werden auf Cootie neben den Bässen noch viele weitere erste Male und Aha-Momente warten. Einige davon sind gut, aber nicht alle. Als der Zufall und die Neugier den wie ein moderner Parzival in Abgeschiedenheit aufgewachsenen, naiven Helden in Kontakte mit der Außenwelt kommen lassen, scheinen die Befürchtungen von Onkel und Tante erstmal entkräftet zu werden: Als Cootie sich zum ersten Mal in der Nachbarschaft blicken lässt, gehen die Leute keineswegs mit Mistgabeln auf die Jagd nach dem „Freak“, sondern reagieren gelassen; die gleichaltrigen Young Adults rund um die coole antikapitalistische Aktivistin Jones (Kara Young) und ihre Freunde Scat (Allius Barnes) und Felix (Brett Gray) nehmen ihn herzlich in ihre Clique auf. Und als Cootie in einer Fast-Food-Kette den ersten Burger seines Lebens verspeist, trifft er auf eine junge Frau namens Flora (Olivia Washington), mit der es spontan funkt und die wie er nicht ganz normal ist: Sie ist übermenschlich schnell.

Doch bald erweist sich, dass nicht alle Warnungen grundlos waren. Nach seinem „Coming-out“ versuchen prompt diverse Leute wie der windige Agent Sam (Ari Frenkel), den jungen Riesen für ihre Zwecke einzuspannen. Und dramatisch wird es, als Cootie in die Probleme seines Viertels im Allgemeinen und der afroamerikanischen Community im Besonderen involviert wird, gegen die Jones und andere Aktivist:innen zu Felde ziehen – die strukturelle Benachteiligung, die dafür sorgt, dass sich die Reichen immer weiter hemmungslos bereichern können, während der Rest und nicht zuletzt die ethnischen Minderheiten kaum auf einen grünen Zweig kommen. Cootie, der geschult durch eifrige Comic-Lektüre eine sehr blauäugige Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit hat, glaubt zunächst fest daran, dass eigentlich alles seine Ordnung habe in seinem Land. Denn immerhin sorgt ein veritabler Superheld, der von Cootie seit Kindertagen verehrte Tech- und Comic-Guru The Hero (Walton Goggins), dafür, dass der gesellschaftliche Status quo so bleibt, wie er ist, und Unruhestifter einkassiert werden. Doch nach erschütternden Erlebnissen schwant Cootie, dass er, wenn er seine Ideale wirklich ernst nimmt, für Veränderungen eintreten muss.

Ein wild mäandernder Ritt

Mit seinem ersten Serienprojekt schlägt Boots Riley in eine ähnliche Kerbe wie mit seinem Film „Sorry to Bother You“: Es geht um schwarze Identität und eine satirische Breitseite gegen die (von Weißen kreierte) kapitalistische Gesellschaftsordnung. Dass er sich dabei diesmal an Elementen des Superheldengenres bedient, heißt nicht unbedingt, dass „I’m a Virgo“ stromlinienförmiger ausfällt: Auf stringente Dramaturgien und schmissige Spannungsbögen pfeift Riley; „I’m a Virgo“ ist ein wild mäandernder Ritt, der von Cootie immer mal wieder zu anderen Figuren driftet und mit unterschiedlichen Stilformen spielt. So gibt es etwa, festgemacht an einer Serie-in-der-Serie, animierte Passagen rund um die Absurditäten des Daseins, und festgemacht an der Figur der Aktivistin Jones, die sowas wie der ideologische Fokus der Serie ist, werden kleine pamphlethafte Polit-Exkurse integriert. Schon weil die angeprangerten Missstände schließlich etwas lauwarm runtergebrochen werden auf die lächerliche Antagonisten-Figur The Hero, die im Vergleich etwa zur bitterbösen Superhelden-Karikatur Homelander aus „The Boys“ kaum abgründiges Potenzial hat, fällt die Gesellschaftskritik dabei freilich etwas plakativ aus.

Das macht die Serie wett durch skurrilen Humor und einen Überschuss an visuellem Witz, der die Effekt-Standards des Superheldengenres ignoriert und eher den handgemachten Charme der Filmwelten von Michel Gondry verströmt. Vor allem aber hat „I’m a Virgo“ eine feste emotionale Basis im Coming-of-Age-Aspekt der Geschichte: Cooties erste Male von der ersten Partynacht über den ersten Sex mit Flora, der einiges an Kreativität erfordert, bis hin zum ersten aktiven Widerstand gegen die Staatsgewalt ergeben eine so schwungvolle, schön seltsame „Origin Story“, dass man gerne mehr davon sehen würde.

 

Kommentar verfassen

Kommentieren