Kann eine Komödie über die Festung Europa funktionieren? Der Schweizer Filmemacher Lionel Baier beweist in „Nathalie – Überwindung der Grenzen“, dass der heikle Spagat zwischen Aufklärung, Anklage und zugespitzt satirischer Kritik durchaus gelingen kann.
Im Sommer 2020 kündigen sich Emmanuel Macron und Angela Merkel in Catania auf Sizilien an, einer Region, die vom Tourismus lebt und zugleich von illegaler Migration geprägt wird. Rassistische Parolen an Hauswänden sind keine Seltenheit. Politiker wie Matteo Salvini nutzen die Anwesenheit der Medien, um eine harte Asylpolitik zu fordern. Gerade hat ein Schweizer Urlauberpaar die Leiche eines Jungen am Strand entdeckt, der auf einem Schlepperboot verunglückt ist. Macron und Merkel beabsichtigen dennoch, ein Flüchtlingscamp aufzusuchen.
Ein potemkinsches Lager
Damit dabei nichts schiefgeht, wird der präsidiale Besuch im Vorfeld akribisch geplant und vor allem daraufhin abgeklopft, wie der Auftritt dem Image des Duos nützen könnte. Nathalie (Isabelle Carré), eine vor Ort arbeitende Beamtin der EU, trifft deshalb auf Ute (Ursina Lardi), eine Vertreterin der deutschen Regierung, mit der sie früher mal eine Affäre hatte, und deren französischen Gegenpart Dubat (Tom Villa), dem das gepflegte Erscheinungsbild der ehemaligen Schulgebäude nicht passt. Er glaubt, gute PR-Bilder seien mit perfekt Französisch sprechenden afrikanischen Flüchtlingen und sauberen Toiletten nicht zu machen. Es müssen mehr Elend und dramatische Schicksale her, deren Verlauf erst dank des Besuchs des französischen Präsidenten eine positive Wendung nehme. Deshalb übt er mit den Vertretern der Europäischen Grenzkontrollbehörde nicht nur gestellte Interviews ein, sondern verwandelt einen Teil des Lagers in einen verwahrlosten Parcours aus Zelten und Dreckhaufen. Ein potemkinsches Dorf, das durch einen Vorher-Nachher-Effekt beweisen soll, dass das europäische Hilfsprogramm funktioniert.
Nathalie ist über das Manipulationsmanöver nicht erfreut, hat aber gerade mit ihrem Sohn Albert (Théodore Pellerin) einen Konflikt auszutragen. Sie hat ihn und dessen Vater vor vielen Jahren verlassen, als sie entdeckte, dass sie eigentlich lesbisch ist. Der zornige Filius und antikolonialistische Tik-Tok-Sänger arbeitet auf Sizilien bei einer Hilfsorganisation und lästert in seinen Clips über seine seit Jahren abwesende Mutter. Außerdem verachtet er die Politik der EU, die er für heuchlerisch, unmenschlich und zynisch hält. Deshalb gibt er brisante Informationen, die er von Nathalie erfährt, an eine Enthüllungsbloggerin weiter.
Die Schwächen des Systems
„Nathalie – Überwindung der Grenzen“ ist nach „Comme des voleurs (à l’est)“ (2006) und „Große Wellen“ (2013) der dritte Teil einer geplanten Tetralogie über Europa. Wie in den Filmen zuvor spiegeln sich Schwächen des politischen Systems in privaten Konflikten. Nicht jedes satirische Element passt dabei in den fragilen Migrationsdiskurs. Wenn Nathalie nachts in einen Bus mit chinesischen Touristen steigt und in Mandarin die Vorzüge Siziliens preist, wobei sie auch über die Dreharbeiten von Viscontis „Der Leopard“ erzählt, springt der Funke der absurden Ungleichzeitigkeit nicht sofort über. Zu schwer lasten die treffend eingefangenen Abgründe der EU-Bürokratie auf den Biografien der Geflüchteten, die nicht für Werbezwecke von Politikern missbraucht werden wollen und sich im Lager aufzulehnen beginnen.
Doch allmählich gewöhnt man sich an die filmischen Sprünge zwischen den politischen Zuspitzungen divergierender Interessen der konkurrierenden EU-Lager und dem schwierigen Mutter-Sohn-Verhältnis, das zunehmend eskaliert. Albert outet sich als praktizierender Jude, während sich seine jeder Religion gleichgültig gegenüberstehende Mutter über seine inkonsequente Verfolgung von Vorschriften lustig macht. Er fühlt sich auch zur Ute hingezogen, die aber sein Werben abweist und lieber Nathalie dabei unterstützt, das Vertrauen ihres Sohnes wiederzugewinnen.
Man merkt den realistischen Bildern an, dass Baier in Flüchtlingslagern wie Moria in Griechenland recherchiert hat und die spezifische Situation wie auch die Kritik der Geflüchteten kennt. Sie fließen in das sorgfältig ausbalancierte Drehbuch ebenso mit ein wie der nicht ganz selbstlose Einsatz von Journalisten, die mit dem Unglück anderer Aufmerksamkeit generieren wollen, oder die brachiale Partystimmung unter den freiwilligen NGO-Mitarbeitern, die ihre spätpubertären Sehnsüchte nach einem radikalen Engagement ausleben.
Baier war sich bewusst, dass die im Zentrum stehende Geschichte einer beschwingt-lockeren Familienzusammenführung zwischen einer etwas verbissenen Eurokratin und einem trotzig gekränkten Scheidungskind dem Porträt einer sich in vielen Sprachen streitenden Europäischen Union eher zugutekommt als eine Aneinanderreihung dramatischer Fluchtszenen und resignativer Dialoge. Dass diese Mischung tatsächlich aufgeht, grenzt an ein Wunder und ist nicht zuletzt den mehr als überzeugenden Darstellern zu verdanken.
Eine hybride Polit-Satire
Insgesamt atmet diese hybride Polit-Satire die Stimmung einer sommerlichen Farce, wenn da nicht der Schrecken der Corona-Epidemie wäre, die das hektische Treiben der EU-Vertreter stoppt und sie im Lockdown auf dem Flughafen stranden lässt, an einem Un-Ort fern der Heimat, analog zu den von überallher zusammengewürfelten Menschen, denen sie in den Süden Europas gefolgt sind. Zwei Sphären, die nicht unterschiedlicher sein könnten.