Lichtspieler - Wie Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte
Dokumentarisches Porträt | Schweiz 2022 | 102 Minuten
Regie: Hansmartin Siegrist
Filmdaten
- Originaltitel
- LICHTSPIELER - WIE LAVANCHY-CLARKE DIE SCHWEIZ INS KINO HOLTE
- Produktionsland
- Schweiz
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Point de vue Doc/SRF/RTS/RSI
- Regie
- Hansmartin Siegrist
- Buch
- Hansmartin Siegrist
- Kamera
- Reinhard Manz
- Musik
- Absolut Trio
- Schnitt
- Andreas Weber
- Länge
- 102 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarisches Porträt
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Doku über den Schweizer Filmpionier und Geschäftsmann François-Henri Lavanchy-Clarke, der 1896 in Genf von ihm gedrehte und inszenierte Kurzfilme vorführte.
François-Henri Lavanchy-Clarke (1848-1922) war einer der Ersten, der Mitte der 1890er-Jahre eine Konzession der Brüder Lumière und einen von ihnen konzipierten Kinematografen erstand. Damit hielt er dann das Leben und den Alltag in der Schweiz in bewegten Bildern fest. Insbesondere für die zweite Schweizer Landesausstellung 1896 in Genf, wo er den Besuchern Menschen aus Afrika, Tableaux vivants und erste Filmaufnahmen aus der Schweiz vorführte.
„Lichtspieler“ von Hansmartin Siegrist beginnt mit einem Ausschnitt aus einem Film, den Lavanchy-Clarke bei der Landesausstellung in Genf drehte. Das Bild zeigt links den Eingang zum Kino-Pavillon, rechts dahinter das „Village Nègre“ – das „Negerdorf“. Im Eingang des Pavillons steht eine hübsch arrangierte Menschengruppe, die Richtung Kamera blickt. Im Bildvordergrund flanieren einzelne Besucher von rechts nach links und links nach rechts. Über den Platz zwischen Pavillon und Negerdorf ziehen größere Gruppen von Menschen nicht-europäischer Provenienz. Nach gut einer Minute eilt, erkennbar an Panama-Hut und hellem Mantel, von rechts Lavanchy-Clarke auf die im Kinoeingang stehende Menschengruppe zu. Er fasst einen Jungen beim Arm und geht danach durch die flanierenden Besucher frontal auf die Kamera zu.
Wenn man den Filmanfang noch einmal im Detail betrachtet, sieht man, wie Lavanchy-Clarke etliche Sekunden davor im Gros der flanierenden Besucher von rechts nach links durch die Szene spaziert, Sekunden später von links wieder ins Bild kommt und nach rechts hinten geht. Wenn man noch genauer hinschaut, sieht man, dass er dabei den Menschen – vielleicht müsste man an dieser Stelle exakter von Schauspielern sprechen –Anweisungen gibt und sie herumdirigiert.
In fast allen seinen Filmen zu sehen
Tatsächlich hat Lavanchy-Clarke, ähnlich wie später Alfred Hitchcock, sich in fast alle seine Filme hineingeschmuggelt. Und auch wenn seine Filme auf den ersten Blick dokumentarisch erscheinen, sind sie offensichtlich geplant und komponiert. Es ist ein Glücksfall, dass es „Lichtspieler“ im Zugriff auf eine reiche Fülle von filmischen und anderen Dokumenten gelingt, einen nachhaltigen Eindruck von der schweizerischen Lebenswirklichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu vermitteln; gleichzeitig zeichnet der Film auch ein lebhaftes Bild seines Protagonisten. In fast allen Filmen von Lavanchy-Clarke ist im Übrigen irgendwo auch ein Werbeschild für „Sunlight Soap“ zu entdecken.
„Lichtspieler“ bewegt sich auf unterschiedlichen Ebenen und verfolgt im Kern drei Erzählstränge. Er blättert Lavanchy-Clarkes Biografie auf, insbesondere ab jener Zeit, als er sich intensiv mit der aufkommenden Filmkunst auseinandersetzte. Er erzählt aber auch, wie Hansmartin Siegrist und ein Team von Wissenschaftlern den fünfzig verschollenen Filmspulen auf die Spur kamen. Außerdem finden sich in „Lichtspieler“ Ausschnitte aus über zwanzig der wiedergefundenen, inzwischen mehrheitlich digital restaurierten und für die analysierende Forschung aufbereiteten Filme.
Etliche dieser Ausschnitte werden von erklärenden Kommentaren begleitet. Andere werden genauer analysiert. Man zoomt ins Bild hinein, kennzeichnet einzelne Personen und verfolgt deren Wege im Bild. Siegrist und sein Team haben sich viele Mühe gegeben, einzelne Personen zu identifizieren.
Seinen Anfang nahm „Lichtspieler“, als das französische Kulturministerium im Jahr 1995 zur Hundertjahrfeier des „Cinéma“ aufrief, was im Französischen Film und Kino zugleich bedeutet. Das geschah „nicht ohne eine gewisse Beliebigkeit“, wie Siegrist notiert; Bewegtbilder gab es ja schon früher, und fest installierte Kinos entstanden erst um 1903. Was man im Dezember 1995 tatsächlich feierte, war die Lancierung des Kinematografen, der in seiner eleganten Kombination von Kamera und Projektor den Boom der Bewegbildkunst nachhaltig befeuerte.
Der Floh im Ohr
Da man auch in Basel die „Geburtsstunde“ des Kinos mitfeiern wollte und bereits über den einen Film verfügte, den Lavanchy-Clarke am 28. Oktober 1896 auf der Basler Rheinbrücke gedreht hatte, restaurierte man diesen und führte ihn auf einer Großleinwand auf einer Brücke in Basel vor. Ein betagter Passant soll in dem rund 50 Sekunden dauernden Film damals seinen Großvater erkannt haben und setzte Siegrist damit einen Floh ins Ohr. Zumindest gründete Siegrist zwanzig Jahre später eine Forschungsgruppe, die mit Mitteln der modernen Bildbearbeitung aufdeckte, wer die rund 80 Personen sind, die 1896 an der Kamera von Lavanchy-Clarke vorbeizogen. Resultat dieses Unterfangens war das 2019 im Christoph Merian Verlag erschienene Buch „Auf der Brücke zur Moderne. Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque“ von Hansmartin Siegrist.
Nach dem Erscheinen des Buches ging alles ganz schnell. In einem französischen Filmarchiv bei Paris entdeckte man über fünfzig Filme von Lavanchy-Clarke, die jahrzehntelang als verschollen gegolten hatten. Ihre Inhalte konnte man in Frankreich nicht enträtseln, weil sie Bilder aus der Schweiz zeigen. In Cannes entdeckte man zudem Lavanchy-Clarkes Nachlass.
Damit hatte Siegrist das Material für „Lichtspieler“ zusammen. Was seinen Film attraktiv und überaus spannend macht, ist die elegante Art der Verschmelzung der unterschiedlichen Erzählebenen durch die Montage. Dadurch eröffnet sich im Blick auf den (nicht nur schweizerischen) Lebensalltag vor 120 Jahren zugleich ein Einblick in die Mittel der modernen filmhistorischen Forschung. Die Begeisterung heutiger Archivare und Historiker ist in „Lichtspieler“ genauso spürbar wie das Staunen der Menschen, die dabei waren, als die Bilder auf der Leinwand laufen lernten.
„Sunlight Soap“ & der Kinematograf
Und über allem schwebt der Esprit von François-Henri Lavanchy-Clarke. Eines Mannes, der ursprünglich Theologie studierte, als Krankenpfleger im Dienst des schweizerischen Roten Kreuzes den Deutsch-Französischen Krieg erlebte und einige Jahre als Missionar in Kairo verbrachte. In den 1880er-Jahren engagierte er sich vehement für Sehbehinderte und gründete eine Firma zur Nutzung von Münzautomaten. Nach seiner Hochzeit fügte er als einer der ersten ganz selbstverständlich den Namen seiner Frau, der Engländerin Jenny Elisabeth Clarke, seinem eigenen hinzu. Und war, als seit Kindertagen begeisterter Tüftler, unter den ersten, die einen Kinematografen entstanden.
Zu annähernd gleichen Zeit brachte Lanvanchy-Clarke als Generalagent der britischen Lever Brothers die „Sunlight Soap“ in die Schweiz. Eine Seife, die statt aus tierischen aus pflanzlichen Fetten gefertigt wurde und wunderbar duftete. Nach US-amerikanischem Vorbild hat er diese Seife mit da und dort angebrachten Werbetafeln in seinen Filmen fleißig beworben.