Tamara (2023)
Drama | Deutschland 2023 | 93 Minuten
Regie: Jonas Ludwig Walter
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2023
- Produktionsfirma
- Jost Hering Filme/ZDF - Das kleine Fernsehspiel/Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF
- Regie
- Jonas Ludwig Walter
- Buch
- Jonas Ludwig Walter · Karsten Laske · Mareike Almedom
- Kamera
- Yuri Salvador
- Musik
- Bertolt Pohl
- Schnitt
- Ronja Selle
- Darsteller
- Linda Pöppel (Tamara) · Lina Wendel (Barbara) · Uschi Brüning (Uschi) · Jörg Witte (Karl) · David Bredin (Rico)
- Länge
- 93 Minuten
- Kinostart
- 23.11.2023
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Drama
Autobiografisch grundiertes Drama über eine junge Frau und ihre Mutter, die über einer Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit aneinandergeraten.
Der 38-jährige Regisseur Jonas Ludwig Walter ist ein Nachwende-Kind. Er hat mit „Tamara“ viel von seiner eigenen Biografie in das von ihm verfasste Drehbuch eingebracht. Bis zu seinem fünften Lebensjahr wuchs er in Kleinmachnow auf und hat an der Ostkreuzschule in Berlin Fotografie studiert. In seinem fein ausbalancierten Spielfilmdebüt besucht die Protagonistin Tamara (Linda Pöppel) ihre Mutter und ihren Vater im Osten, der teilweise wie eine texanische Oase wirkt. In einer Gastwirtschaft tanzen Frauen mit Cowboy-Hüten zu Country-Musik, während zu Hause bei den Eltern eine Abschiedsfeier stattfindet. Sie müssen das Grundstück verlassen oder es kaufen. Tamara schlägt vor, einen Kredit aufzunehmen, um ihr Erbe behalten zu können. Doch ihr Vorschlag trifft auf taube Ohren. Sie besucht Jugendfreunde, die mal Neonazis gewesen sind und nach 1990 zu Wohlstand kamen, während ihre Eltern dem Systemwechsel nichts mehr abtrotzen konnten.
In der Vergangenheit zu schwelgen
Dann verunglückt ihr Vater auf der Autobahn. Die Polizei benötigt eine DNA-Probe, um die verbrannten Überreste zu identifizieren. Tamara nimmt den Tod ihres Vaters zum Anlass, um in der Vergangenheit zu schwelgen. Sie schaut sich „Sandmännchen“-Filme an, alte Urlaubsfotos, die Passbilder des Vaters. Sie klammert sich an seine Kleidung, die die Mutter entsorgen will. Die Mutter muss jetzt Witwenrente beantragen, da sie über keine eigenen Einkünfte verfügt. Der neue Grundstückbesitzer lässt schon die Bäume absägen. Tamara aber kann nicht begreifen, warum ihre Mutter sich nicht zur Wehr setzt. Diese möchte nach dreißig Jahren nicht mehr kämpfen. „Zur Not gehe ich auf die Platte“, sagt sie resigniert.
Erinnerungen an die Kindheit steigen in Tamara hoch. Sie hört sich die Tonaufnahmen des Vaters an, eine Art Audio-Tagebuch. Mit der Mutter räumt sie die Zimmer aus. Die Mutter möchte nur einen Teil ihrer Bücher behalten, während Tamara davon erzählt, dass sie gerade Judith Butler liest. Sie leben schon lange in unterschiedlichen Welten; die Mutter weiß kaum etwas über das Privatleben der Tochter, schenkt ihr aber ein Buch von Christa Wolf, obwohl sie ahnt, dass Tamara DDR-Literatur nicht mehr viel sagt.
Als sich die Sachbearbeiterin der Witwenrente verplappert und Tamara erfährt, dass ihr Vater gar nicht ihr Erzeuger ist, sprechen sie über die Rolle der Mutter in der DDR, ihre Parteizugehörigkeit und über die Versuche des Widerstands gegen das System. Irgendwann sagt sie, dass „Biografien nicht verhandelbar sind“. Man versteht, dass die Vergangenheit Tamara geprägt hat, obwohl die Mutter nie über sie geredet hat.
Ein Konflikt, der sich nicht abschütteln lässt
Der Debütfilm von Jonas Ludwig Walter ist ein überraschend reifes Drama über einen Mutter-Tochter-Konflikt, der mitten in der Trauerzeit ausbricht, befeuert von Lebenslügen, Geheimnissen und unterschiedlichen Temperamenten sowie einem nicht mehr existierendem Staat. Der lässt sich noch über Generationen hinweg nicht abschütteln, auch nicht durch Weglaufen oder Wut auf die eigene Herkunft. Ein Reservoir der Erinnerungen wird hier angezapft, ohne Rückblenden zu bemühen. Nur die aus dem Off ertönenden Audio-Aufnahmen des Vaters springen zeitlich hin und her. Die DDR lebt in Kinderbüchern weiter und im Interesse am Weltraum, das Gleichaltrige im Westen nie entwickelt haben, aber auch in den Leerstellen der Fotoalben, die sich von denen der bis 1989 in der Bundesrepublik Geborenen unterscheiden.
Die lakonischen Filmbilder zeigen Tankstellen, Einkaufscenter und Beerdigungsinstitute, die erst allmählich Einzug in diese karge Provinz hielten. Sie löschten bei den Jüngeren das Bewusstsein für das andere Leben aus, das hier einmal existiert hat. Die Älteren hängen ihm weiterhin nach, verloren in einem Übergangsvakuum, das sie nicht zu füllen vermögen. Melancholie schwebt über dem Geschehen; kaum eine Szene, die nicht von Schmerz erfüllt ist.
„Tamara“ seziert in langsamen Einstellungen die Psychodynamik einer zerfallenden Familie, registriert zaghafte Annäherungen, das wachsende gegenseitige Verständnis. Der Film komprimiert die Dramaturgie nicht, sondern lässt den Figuren Zeit, sich auf den eigenen Phantomschmerz einzulassen. So trifft er in ihr Innerstes, kratzt an der versteinerten Oberfläche, bis sie loslassen können, um einen Neuanfang zu wagen.