Anhell69
Dokumentarfilm | Kolumbien/Rumänien/Frankreich/Deutschland 2022 | 75 Minuten
Regie: Theo Montoya
Filmdaten
- Originaltitel
- ANHELL69
- Produktionsland
- Kolumbien/Rumänien/Frankreich/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Monogram Film
- Regie
- Theo Montoya
- Buch
- Theo Montoya
- Kamera
- Theo Montoya
- Musik
- Vlad Fenesan · Marius Leftarache
- Schnitt
- Matthieu Taponier · Delia Oniga · Theo Montoya
- Länge
- 75 Minuten
- Kinostart
- 28.09.2023
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Essayistisches Porträt einer jungen, queeren Generation in Kolumbien, bei der Widerstand und Trauer, der allgegenwärtige Tod und Drogen zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl führen.
Für einen Filmemacher wie Theo Montoya, der auf einem „Friedhof“ aufgewachsen ist, scheint ein B-Movie mit Geistern ein fast schon naheliegendes Genre. „Anhell69“ sollte der Film heißen, den der kolumbianische Regisseur sich ausgedacht hatte – eine Geschichte in der dystopisch gezeichneten Stadt Medellín über die Koexistenz von Lebenden und Geistern und ihren zügellosen Sex auf klandestinen nächtlichen Partys. Auf die spektrophilen Ausschweifungen, so die Idee, sollten soziale Säuberungen durch Geisterjäger folgen, die von den jungen Menschen auf den Straßen mit Rebellion beantwortet würden. In dem 21-jährigen Camilo Najar, der in den sozialen Netzwerken unter dem Namen Anhell69 in Erscheinung trat und durch seine Mischung aus Schönheit, Charisma und Nihilismus betörte, hatte Montoya seinen idealen Hauptdarsteller gefunden. Doch eine Woche nach dem Casting war Najar tot.
Trans-Film mit Geistern und dem Tod
Der Titel der nie realisierten Ghost-Story lebt gleichsam als Geist in einem anderen Film fort. Er handelt nicht von Spektrophilie, hat aber mit Geistern und dem Tod noch immer viel zu tun. Aus dem geplanten Genre-Film wurde ein durch und durch ungenerischer Film: ein Film ohne Grenzen und Geschlecht – Montoya nennt ihn einen „Trans-Film“.
Die gleitende Fahrt eines Leichenwagens durch die Straßen einer der berüchtigtsten (Gewalt-)Städte der Welt ist in „Anhell69“ mehr als eine Rahmung, die am Anfang und Ende des Films steht. Sie ist der Ort, an dem die Erzählung über den von Gewalt und Repression geprägten Alltag der queeren Generation Medellíns ihr eigentliches Zuhause hat. Das Fahrzeug transportiert einen Sarg, in dem der eines mehrfachen Todes (und auf diverse Todesarten) gestorbene Filmemacher aufgebahrt liegt. Als Off-Stimme spricht er aus dem Reich der Toten und erinnert sich an die Vorbereitungen für den ursprünglich geplanten Film.
„Anhell69“ verwebt in die Erzählung auch eine autofiktionale Spur. Montoya, ein Jahr vor dem Tod von Pablo Escobar geboren, wandert gedanklich in seine Kindheit und erinnert sich. Mit 13 Jahren wurde er aus der Kirche exkommuniziert, nachdem er beichtete, dass er beim Masturbieren an Jesus Christus dachte. Er lernte die Straßen von Medellín kennen, probierte Drogen und begegnete der Welt des Kinos, dem einzigen Ort, an dem er weinen konnte. Bilder aus dem Inneren des Leichenwagens – am Steuer sitzt der für seinen eklektischen Stil bekannte kolumbianische Dichter und Filmemacher Victor Gaviria – und vom Jugendzimmer des Regisseurs verbinden sich auf fluide Weise mit Impressionen aus dem ausschweifenden Partyleben der queeren Clubs und mit traumähnlichen Drohnenaufnahmen der nächtlichen Stadt. Die Welt der Imagination, der Erinnerung und des Rauschs findet in den Casting-Videos, in denen Montoya seine Freunde nach ihrem Leben befragte, eine realistische Grundierung. Wie Montoya sind auch sie ohne Väter aufgewachsen, haben Ausgrenzung und Gewalt erfahren. Das Land, in dem sie leben – „ein Land der Diebe“ – betrachten sie mit Abscheu, Scham und einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit. „Das Konzept der Zukunft scheint mir eine Illusion zu sein.“
Ein gemeinschaftliches Sein
Das Friedensabkommen zwischen der Regierung und den Farc-Rebellen im Jahre 2016 sollte nach Jahren exzessiver Gewalt für die kommende Generation ein Versprechen auf Zukunft sein. Doch die Gewalt ist nach wie vor präsent, und das auf vielfältige Weise. Als 2021 junge Menschen gegen Ungleichheit und eine verkrustete politische Ordnung auf die Straße gingen, feuerte die Polizei in die Menge und veranstaltete eine Treibjagd auf Jugendliche. Tod durch Drogen, Selbstmord und durch Hassverbrechen sind vor allem im Leben queerer Menschen Alltag; innerhalb von vier Jahren verlor der Filmemacher acht seiner Freunde.
„Anhell69“ ist dennoch keine bittere Totenklage, auch wenn der Ton noch so morbide ist. Mit seinem Debutfilm zelebriert Theo Montoya vielmehr ein „anderes“ gemeinschaftliches Sein: als dunkles, rauschhaftes Fest, auf dem ganz selbstverständlich auch der Tod mittanzt.