Guillermo del Toros Pinocchio
Animation | USA/Mexiko/Frankreich 2022 | 114 Minuten
Regie: Guillermo del Toro
Filmdaten
- Originaltitel
- GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO
- Produktionsland
- USA/Mexiko/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Double Dare You/Necropia Ent./Netflix Animation/Pathé/ShadowMachine/The Jim Henson Co.
- Regie
- Guillermo del Toro · Mark Gustafson
- Buch
- Guillermo del Toro · Patrick McHale
- Kamera
- Frank Passingham
- Musik
- Alexandre Desplat
- Schnitt
- Holly Klein · Ken Schretzmann
- Länge
- 114 Minuten
- Kinostart
- 24.11.2022
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 12.
- Genre
- Animation | Drama | Fantasy | Märchenfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Grandiose Stop-Motion-Neuverfilmung der Geschichte um die lebendige Holzpuppe des Schreiners Gepetto. Die modernisierte Deutung erzählt von Akzeptanz und Individualität.
Etwas Großes hat Guillermo del Toro aus Carlo Collodis „Pinocchio“ gemacht. Die bekannte Geschichte über eine Holzpuppe, die ein richtiger Junge aus Fleisch und Blut werden will, gibt es hier nicht. Stattdessen hat der mexikanische Regisseur die Bausteine neu zusammengesetzt und klug umgewandelt. Sein „Pinocchio“ ist ein Film über Individualität geworden und nicht über Anpassung, über Freiheit und nicht über Bevormundung, ein Film über Väter und Söhne, über das Leben – und den Tod. Diese Themen werden überdies zugespitzt, indem die Handlung ins faschistische Italien verlegt wird. Und ein Meilenstein der Animationskunst ist diese Adaption obendrein.
Dass del Toro, der in dieser Version als Initiator bereits im Titel geführt wird und sich die Regie mit Mark Gustafson teilt, mehr mit der Dunkelheit anfangen kann als mit dem Licht, zeigt schon die erste Szene. Am Grab eines Kindes nimmt die Geschichte ihren Lauf. Carlo ist tot, der Sohn des Schreiners Gepetto aus dem kleinen italienischen Dorf. Bei einem Bombenabwurf auf eine Kirche während des Ersten Weltkriegs ist er ums Leben gekommen. Den Verlust hat der Alte nie verkraftet. Er ist zum Trinker geworden und im Dorf in Ungnade gefallen. Im Rausch hackt er eines Tages die Kiefer um, die er am Grab von Carlo gepflanzt hat. Noch in der Nacht schnitzt er aus dem Holz die grobe Puppe eines Jungen. Wenn Gott ihm Carlo nicht zurückgibt, dann will er seinen Sohn selbst neu erschaffen. Nicht aus zärtlicher Liebe entsteht diese Puppe, der ein Waldgeist schließlich Leben einhaucht, sondern aus Wut und Verzweiflung.
Die Holz-Sohn hat einen eigenen Kopf
Die Freude über den Holz-Sohn erhält auch schnell erste Brüche. Begierig lernt die anfangs noch sehr ungelenke Holzpuppe Gegenstände und deren Bezeichnungen kennen, nur um sie dazu zu verwenden, etwas zu zerstören. Die Puppe ist nicht süß und nicht artig, sie weiß noch nichts über gutes und schlechtes Verhalten, über Moral, Regeln und Gefühle.
Collodis Roman lebt ganz von diesem Antihelden. „Bengele“ wird die Puppe in der deutschen Übersetzung genannt; sie ist ein ichbezogenes Lebewesen, an deren Beispiel die junge Leserschaft lernen soll, wie man sich besser nicht verhält. Schon die Disney-Adaption von Hamilton Luske und Ben Sharpsteen aus dem Jahr 1940 hat diesen überdeutlichen pädagogischen Zeigefinger des Bildungs- und Erziehungsromans abgeschwächt und aus der teils auch bösartigen Holzpuppe ein magisches Wesen mit großen Zielen und großem Herzen gemacht. Auch del Toro zeichnet sie nicht unsympathisch. Er gesteht ihr zu, Fehler zu machen, aber er verurteilt sie deshalb nicht. Im Gegenteil: Der Ungehorsam Pinocchios wird zur Charakterstärke. Nicht Anpassung ist das Ziel, sondern eigenes Denken, eine eigene Persönlichkeit. Genau diese Abweichung von der Vorlage hebt del Toros Pinocchio auf eine andere Ebene und passt viel besser in die Gegenwart.
Pinocchio – diesen Namen gibt ein Waldgeist der Holzpuppe später – wird somit viel ernster genommen. Er ist nicht mehr nur formbares Material, das auf Linie gebracht werden und den Vorstellungen anderer entsprechen muss. Gepetto aber ist noch nicht so weit. Er sieht in dem widerspenstigen Jungen mit dem eigenen Willen zunächst auch eine große Last, was dazu führt, dass Pinocchio von zu Hause fortläuft.
Kein Wiedergänger von Carlo
Geschickt konterkariert der Film Pinocchios Wunsch, so akzeptiert zu werden, wie er ist und nicht nur ein Wiedergänger von Carlo zu sein, mit dem historischen Hintergrund des Faschismus. Denn im Italien, das hier entworfen wird, wirken nahezu alle Menschen wie willenlose Puppen. Blind folgen sie den Anweisungen ihres Führers. „Ich mag Puppen“, lässt der Film Mussolini in einer Szene sagen. Auch Pinocchio gerät irgendwann zur Strafe in ein militärisches Ausbildungscamp, in dem er gegen den Jungen eines Offiziers kämpfen soll, mit dem er sich angefreundet hat. Bei Collodi findet diese Passage im Land der Spielereien statt, in der die Kinder sich zügellos austoben und dafür später in Esel verwandelt werden. Bei del Toro hingegen braucht es diese Transformation nicht. Das Spiel ist hier bitterer Ernst und führt auf das Schlachtfeld. So gesehen fügt „Pinocchio“ sich stimmig in eine Reihe mit „Pans Labyrinth“ und „The Devil’s Backbone“, in denen del Toro ebenfalls über Kinder in totalitären Systemen erzählt hat.
Die Liebe von Guillermo del Toro zum Stop-Motion-Film ist unübersehbar. Del Toro und Gustafson inszenieren ihre Animation wie einen Realfilm. Die Kamera ist stetig in Bewegung und schwebt in aufwändigen Fahrten durch die mit atemberaubender Finesse gestaltete Miniaturwelt; und auch das Spiel der markanten Figuren folgt nicht nur reinen Zweckgedanken. Die Animatoren lassen ihre Figuren nachsinnen, beobachten ihre Gesichtszüge, lassen sie beiläufige Bewegungen machen, die natürlich nicht beiläufig sind. Sogar sich wandelnde Lichtstimmungen werden imitiert. Zugleich ist die Form hier kein Gimmick, sondern essenziell für die Geschichte; perfekt spiegeln die Puppen die Kritik an der Gleichschaltung der Menschen, kongenial erwecken die Animatoren den Puppen-Pinocchio zum Leben und hauchen ihm eine Seele ein.
Ein aufregend geheimnisvolles Märchen
Ganz sicher fehlt dieser Adaption aber Leichtigkeit. Sie wirkt schwer und düster, gerade wenn es um den Krieg geht und der Film die Gefahren vor Augen führt, wenn die Welt blind wird für den Wert der Individualität und nur noch auf scheinbare Perfektion schielt. Auch sonst betont der Film die dunklen Seiten und macht aus der Geschichte ein aufregend geheimnisvolles Märchen, das in fremde Welten führt, bis hin zu einer schaurigen Begegnung mit dem faszinierend personifizierten Tod. Ebenso gut lässt sich „Guillermo Del Toros Pinocchio“ durch die zahlreichen Kreuzmotive auch als religiöse Geschichte lesen, als Fabel über Geburt und Tod, Auferstehung, Nächstenliebe und Erlösung – und auch über Vergänglichkeit.
Für einen Film, der sich auch an Kinder richtet, ist das ein dickes Brett. Das alte Märchenversprechen, „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, gilt hier nicht mehr. Dafür öffnet der Film mit seiner Schwermut und seiner Ernsthaftigkeit aber einen Raum zum Nachdenken. Er besitzt eine komplexere Moral als die Vorlage und berührt vielleicht sogar mehr als andere „Pinocchio“-Fassungen zuvor.