Die Zukunft liegt im Schlamm. Nur von den riesigen metallischen Schösslingen gesäumt, die ihr einst das Leben aussaugten, erstreckt sich die feuchte, nahezu leblose Erde über das Land. Der privilegierte Teil der postapokalyptischen Menschheit hat sich in diese noch funktionsfähigen Megastrukturen, die Zitadellen, zurückgezogen. Alle anderen leben von den Resten, die die Technologie und der Schlamm und die von ihnen zerstörte Flora und Fauna hinterlassen haben.
Vesper (Raffiella Chapman) ist eine von ihnen. Routiniert durchforstet die 13-Jährige den Schlamm, entzieht ihm ein paar deformierte Wurzeln – ihre Nahrung. Sie isst den aus ihnen gepressten und mit ein paar Mehlwürmern gewürzten Sud aus einer Schüssel. Ihrem Vater (Richard Brake) führt sie den Brei über eine Magensonde zu. Auch sein Gehirn, das neben dem reglos im Bett liegenden Körper in einem Flüssigballon hängt, wird von einem Schlauch am Leben erhalten. Ein organisch-mechanischer Apparat, der immer an Vespers Seite schwebt, ist die einzige Kommunikations- und Bewegungsmöglichkeit, die dem Vater geblieben ist. Der fliegende Computerkopf, auf den die Tochter zwar kein Lächeln, aber zumindest ein Gesicht gemalt hat, schwebt an ihrer Seite über toten Schlamm, verdorbene Sümpfe und die zur todbringenden Flora mutierenden Wälder – all das, was der Versuch der Menschheit, die ökologische Katastrophe mit Gentechnik aufzuhalten, hinterlassen hat.
Im Umland von Vilnius
Was der Menschheit nach dem Kollaps geblieben ist, ist weder das leblose Ödland noch die aseptische, urbane Welt. „Vesper Chronicles“ wählt nicht die gängigen Schablonen, auf die das dystopische Segment der zeitgenössischen Science-Fiction gerne zurückgreift. Die postapokalyptische Zukunft des Films lebt, nur eben nicht so wie sie sollte. Alles ist um eben dieses ökologische Ungleichgewicht konstruiert. Die verfaulte, zersetzte und mutierte Flora und Fauna, von Kameramann Feliksas Abrukauskas im Umland von Vilnius fantastisch eingefangen, ist das Angesicht der Dystopie. Heideland, Wiesen, Moore und Nadelwälder pulsieren nicht mit Leben, sondern mit dem, was das Leben korrumpiert. Fremdartige und doch irdische, weil menschengemachte Viren, Sporen und Bakterien kämpfen in dieser Welt der desolaten Schönheit um die Vorherrschaft. Jederzeit ist spürbar, wie schwer es ist, der Erde das abzuringen, was man zum Überleben braucht.
Dem Mangel und der alles umgebenden Lebensfeindlichkeit entsprechend ist der Mensch dem Menschen wieder ein Wolf. Die Währung für diejenigen, die nicht vor dieser Natur geschützt in den Zitadellen leben, ist das eigene Blut. Ein Mann namens Jonas (Eddie Marsan) handelt damit. Seine Kontakte zur Zitadelle ermöglichen ihm einen Platz an der Spitze der Nahrungskette. Von dort aus verkauft er das Blut der Kinder, die für ihn arbeiten. Der Lohn: das sterile Hybrid-Saatgut der Zitadelle; die Gentechnik, die nur eine Ernte ohne Nachkommen hervorbringt und damit den Kreislauf verhindert, der das Überleben stützen könnte und die Welt weiter in ihrem postapokalyptischen Dasein gefangen hält.
Eine Wendung ins Märchenhafte
Zugleich ist diese Gentechnik in ihrer anarcho-wissenschaftlichen Form aber auch der Weg zurück ins Leben. Mit ihren eigenen Gen-Hacking-Experimenten bastelt Vesper Ökosysteme; kleine Pflanzen, die mannigfaltige Farbschemen und sogar eigene Charakterzüge zu entwickeln scheinen. Vesper glaubt an eine Zukunft, in der die Flora wieder Lebensspender und nicht mehr Todbringer ist.
Den Weg dorthin baut das Regie-Duo Kristina Buozyte und Bruno Samper auf die mannigfaltigen Details ihrer postapokalyptischen Welt. Statt sich in den Klassenkampf zu stürzen, wächst die idiosynkratische Zukunftsvision ganz organisch aus der dystopischen Welt in Richtung Hoffnung. Das ist ein eleganter, aber für seine stets erkennbar geradlinige Ausrichtung mitunter etwas wenig zugespitzter Erzählmodus. Der Science-Fiction- und Coming-of-Age-Geschichte wohnt etwas Langwieriges inne. Doch das, was sich mühsam aus dem Schlamm der Erzählung zieht, hat etwas Märchenhaftes.