Drama | Frankreich 2022 | 123 Minuten

Regie: Alice Diop

In einem Gerichtsprozess in der französischen Stadt Saint Omer soll über eine Senegalesin geurteilt werden, die ihr 18 Monate altes Kind ertränkt hat. Eine junge, ebenfalls im Senegal geborene Schriftstellerin beobachtet den Prozess, weil sie sich dem Fall in ihrem nächsten Buch über die thematisch verwandte Medea-Sage nähern will. Im Laufe der Verhandlung aber zeigt sich, dass beide Frauen viel miteinander verbindet. Ein mit präzisem Minimalismus inszenierter, fast theaterhafter Film über Mutterschaft und Rassismus, der seine Themen nicht thesenhaft ausformuliert, sondern sich eher persönlichen Erfahrungen widmet. Mitunter etwas spröde und vage, aber durch seine genauen Beobachtungen und die hinter der Oberfläche brodelnden Gefühle auch ungemein fesselnd. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SAINT OMER
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Srab Films
Regie
Alice Diop
Buch
Alice Diop · Marie N'Diaye
Kamera
Claire Mathon
Schnitt
Faruk Yusuf Akayran · Amrita David
Darsteller
Kayije Kagame (Rama) · Guslagie Malanga (Laurence Coly) · Valérie Dréville (Gerichtspräsidentin) · Aurélia Petit (Anwältin Vaudenay) · Xavier Maly (Luc Dumontet)
Länge
123 Minuten
Kinostart
09.03.2023
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Grandfilm (16:9, 1.85:1, DD5.1 frz./dt.)
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Eine schwangere Schriftstellerin mit senegalesischen Wurzeln beobachtet in Saint Omer die Gerichtsverhandlung einer jungen Frau, die wegen Kindsmords angeklagt ist.

Diskussion

An der französischen Küste hat die aus Senegal stammende Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) ihr 18 Monate altes Kind ertränkt. Im Zentrum von „Saint Omer“ steht der nachfolgende Prozess in der gleichnamigen Stadt. Dabei erwartet einen aber kein herkömmliches Gerichtsdrama. Die ungewöhnlich sanftmütige Richterin (Valérie Dréville) liest zu Beginn zwar die Namen der Geschworenen vor, jedoch schenkt der Film ihnen weiter keine Aufmerksamkeit. Es ist ein frühes Indiz dafür, dass das Urteil hier entweder den Zuschauern überlassen bleibt oder am Ende vielleicht gar keine Rolle spielt.

Im ersten Spielfilm der französischen Dokumentaristin Alice Diop lernt man zunächst Rama (Kayije Kagame) kennen. Sie lehrt an der Uni und beobachtet den Prozess für ihr neues Buch, in dem sie sich dem Kriminalfall über die antike Medea-Sage nähern will. Ähnlich wie die mythologische Figur bleibt auch Laurence nach ihrem Umzug nach Frankreich eine Fremde und Außenseiterin. Sie lässt sich auf eine ungleiche Beziehung mit einem Einheimischen ein und tötet schließlich aus Verzweiflung ihr eigen Fleisch und Blut.

Was Rama genau an dieser Geschichte interessiert, bleibt eine Weile nebulös; die junge Frau disqualifiziert sich wegen ihrer konsequent verschlossenen Art eigentlich ohnehin als Protagonistin. Trotzdem entwickelt sie durch ihre mächtige Statur und das schmale, markante, von langen Braids gerahmte Gesicht eine fesselnde Präsenz. Man sieht Ergriffenheit und Angst in ihrem durchdringenden Blick, ohne die Ursache dafür zu kennen. Sehr lange bleibt Rama passiv, wie ein Medium, durch das man die Ereignisse wahrnimmt.

Präziser Minimalismus

Die Verhandlung inszeniert Diop mit präzisem Minimalismus wie eine Theateraufführung. Geduldig verharrt die Kamera auf einzelnen, meist in der Bildmitte platzierten Darstellern: auf der empathischen Richterin, der ähnlich behutsam agierenden Anwältin und vor allem auf Laurence. Während Rama die meiste Zeit schweigt, offenbart Laurence sich in ausführlichen Monologen über ihr von Entfremdung, Isolation und Auflösung geprägtes Leben. Wenn zwischendurch auf eine der bewegungslosen Zuhörerinnen geschnitten wird, meint man manchmal, das Bild wäre eingefroren.

Diese enorme Konzentration auf Sprache und Körper fühlt sich in „Saint Omer“ gelegentlich ein bisschen trocken an. Aber letztlich führt die radikale Reduktion zu keiner Versachlichung, sondern zu einer zurückgenommenen, aber umso spürbareren Emotionalität. Die Figuren wirken permanent angespannt, die fast ausdruckslos sprechen, aber dafür viel über ihre glühenden Augen erzählen. Besonders in Laurence scheint es zu brodeln. Die Texte beruhen zwar mitunter auf einem wahren Kriminalfall, aber statt um die Durchleuchtung des realen Ereignisses geht es mehr um persönliche Erfahrung.

Mit der Zeit wird klar, dass sich in Laurence verschiedene Ängste von Rama bündeln. Auch sie stammt aus einer senegalesischen Familie, hat ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter und ist schwanger. Wenn sie sich beim Mittagessen einmal ein Bier bestellt, scheint sie sich – wenn auch in wesentlich indirekterer Form als Laurence – sogar zerstörerisch gegen ihr eigenes Kind zu wenden.

Weibliches Gemeinschaftsgefühl

„Saint Omer“ widmet sich Themen wie Mutterschaft und Rassismus, ohne sie thesenhaft auszuformulieren oder in dramatischen Konflikten aufzulösen. Der Film ist dabei zugleich genau und unverbindlich. Es geht um Überschneidungen, aber nicht um deckungsgleiche Erfahrungen. Mehrmals beschwört Diop dabei ein weibliches Gemeinschaftsgefühl herauf. Während einer Vorlesung von Rama schneidet sie auf interessierte Studentinnen; und die Verhandlung schafft durch Aufnahmen von wissenden Zuhörerinnen eine verständnisvolle Atmosphäre, die lediglich einige Male durch das bösartige Gepolter des Staatsanwalts gestört wird.

Diop will, dass die Zuschauer:innen neugierig sind und genau hinsehen. Nähe wird im Film meist durch Blickkontakt hergestellt. Dieser Kontakt kann aufrütteln und erschüttern. Als sich Rama am Laptop eine Szene aus Pasolinis Medea-Verfilmung ansieht und sich von der Hauptdarstellerin Maria Callas angestarrt fühlt, schreckt sie ebenso zurück wie im Gerichtssaal, als Laurence sie einmal lange und vertraut ansieht. Es wirkt ein bisschen pathetisch, wenn die Darstellerinnen gegen Ende mehrmals direkt in die Kamera blicken, aber es folgt durchaus der Logik, dass Blicke zu verstehen helfen.

Diops Betrachtungen dringen unter die Oberfläche und bleiben doch vage. „Saint Omer“ ist wie ein Puzzle, bei dem einige Teile fehlen, das Bild aber trotzdem erkennbar ist. Wenn Rama am Anfang über „Hiroshima Mon Amour“ von Marguerite Duras spricht und feststellt, dass die traumatische Erfahrung der Romanheldin darin zu einem lyrischen Lied wird, greift sie diese Formulierung am Ende noch einmal mit dem Nina-Simone-Song „Little Girl Blue“ auf. Wie der Film lässt das Lied eine Traurigkeit spüren, ohne sie ganz zu begreifen.

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