Ein ganz normaler Morgen in Paris. Ein verliebtes Paar erwacht; ein Kleinkind gesellt sich zu rasch hinzu. Als das Paar bemerkt, dass es verschlafen hat, ist es mit der Entspanntheit vorbei. Die freiberufliche Visagistin Hélène muss zur Arbeit; der Journalist Antoine, neuerdings Romanautor in progress und der knapp zweijährige Melvil können noch liegenbleiben. Kurz entbrennt ein Zwist, weil Hélène aufgrund eines Auftrags eventuell nicht mit nach Korsika reisen kann, aber die Klärung wird vertagt. Am Abend steht für Hélène und den gemeinsamen Freund Bruno ein Konzertbesuch an. Im Club „Bataclan“ spielen die „Eagles of Death Metal“. Antoine kümmert sich um Melvil.
Aber es ist kein „normaler“ Morgen in Paris. Es ist der Morgen des 13. November 2015. Am Abend steht das Fußball-Länderspiel gegen Deutschland an. Am Abend werden islamistische Terroristen die Stadt und ihre Bewohner an verschiedenen Orten attackieren und insgesamt 130 Menschen töten, 89 davon im „Bataclan“.
Nachdem gerade erst mit „November“ von Cédric Jimenez ein Film über die Terroranschläge in Paris in den deutschen Kinos angelaufen ist, folgt mit „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ nun eine weitere Auseinandersetzung mit dem nationalen Trauma, die auf einem berühmten Facebook-Post und einer anschließend publizierten autobiografischen Schrift des Journalisten Antoine Leiris fußt.
Die Binnenperspektive der Hinterbliebenen
Während sich „November“ auf die Perspektive der Exekutive in Reaktion auf die Terroranschläge beschränkt, thematisiert „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ von Kilian Riedhof die Binnenperspektive der Hinterbliebenen. Beide Filme teilen die Einstellung, den Tätern so wenig Raum wie möglich zu gestatten – und beide Filme erzählen die Ereignisse des Abends und der Nacht des 13. November 2015 als Teichoskopie, hier vermittelt durch besorgte SMS-Nachfragen von Freunden: „Seid ihr in Sicherheit?“
Erst jetzt realisiert Antoine, dass in der Stadt etwas im Gange ist. Er versucht, Hélène im „Bataclan“ zu erreichen, aber vergeblich. Auch Bruno, der selbst verletzt wird, kann nicht weiterhelfen. Verzweifelt macht sich Antoine auf die Suche, klappert die Krankenhäuser und Notaufnahmen ab. Erst dann erfolgt der Anruf, der Gewissheit bringt: Hélène ist unter den Toten des Anschlags auf den Musikclub. Während die Ermittlungsbehörden Informationen zum Tathergang liefern, reagiert Antoine mit einem Facebook-Post auf die Ereignisse, indem er die Täter adressiert: „Am Freitagabend habt ihr das Leben eines ganz besonderen Menschen gestohlen. Die Liebe meines Lebens. Die Mutter meines Sohnes. Aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich weiß nicht, wer ihr seid, und ich will es auch nicht wissen. Ihr seid tote Seelen. (…) Auf den Hass mit Wut zu antworten, hieße, der gleichen Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid.“
Dieser Text traf zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Ton. Der Post wurde in den Sozialen Medien vielfach geteilt und zierte tags darauf die Titelseite von „Le Monde“. Antoine wird um Interviews geben und zu Talkshows eingeladen. Auch hier kommuniziert „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ untergründig mit „November“, insofern die ausgestellte Besonnenheit des Facebook-Statements bestens zur vorgeführten Professionalität der Anti-Terror-Einheit zu passen scheint – im Selbstbild und dem Selbstverständnis der Grande Nation. Und ebenso wie diese Professionalität auf die Terroranschläge nur reagieren kann, so eilt die Rationalität des Intellektuellen Antoine seiner emotionalen Trauerarbeit voraus.
Manifeste Verstörung
Genau davon erzählt der Film dann in der Folge: Dass Antoine sich mit seinem Statement, mit seiner öffentlichen Rolle als Sprachrohr der Hinterbliebenen selbst emotional überfordert beziehungsweise unterschätzt hat. Der Verlust von Hélène äußert sich in einer manifesten Verstörung, die durchaus fragwürdige selbstbezogene Tendenzen aufweist, wenn der erweiterte Kreis der Familie ihn darauf hinweisen muss, dass auch sie um Hélène trauern. Zumal, wenn ganz pragmatisch Dinge und Termine, etwas die Beerdigung, diskutiert und entschieden werden müssen, verweigert sich der Witwer, der dann irgendwann die Verantwortung spürt, jetzt auch alleinerziehender Vater zu sein und dem Kind über die Abwesenheit der Mutter hinweghelfen zu müssen.
Die Inszenierung registriert zwar die Spannung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten und findet auch ausdrucksstarke Bilder dafür, wie beide Sphären verschwimmen, wenn Antoines Bekanntheit dafür sorgt, dass Bilder von Hélène in den Medien kursieren, worauf wiederum der Sohn spontan reagiert; aber letztlich bleibt eine Reflexion auf die Funktion von Antoines öffentlicher Rolle ausgespart. Weil sich der Film weitgehend auf die Binnenperspektive der Trauerarbeit und die Neujustierung der Vater-Kind-Beziehung beschränkt, rückt das Skandalon der Zufälligkeit, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, rasch in den Hintergrund. Letztlich hätte Hélène auch bei einem Autounfall sterben können; allerdings hätte dies Antoines fünf Minuten Berühmtheit verstellt.
Die Tendenz des Films zum eskapistischen Lobpreisen des kleinfamilialen Kokons äußert sich schon in der für einen „bourgeoisen Bohemien“ auffallenden Ignoranz des Facebook-Statements, von den Tätern nichts zu wissen und auch nichts wissen zu wollen. Passend dazu erscheint die Pariser Wohnung als bergende Höhle, die später im Film gegen eine hellere Wohnung getauscht werden muss, weil die Höhle voller Erinnerungen steckt.
Wechselbad der Emotionen
Weil „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ also eigentlich keine Geschichte erzählt, sondern ein Wechselbad von Emotionen in Bilder überführt, bekommt man als Zuschauer reichlich Zeit, um Pierre Deladonchamps als Antoine und Zoé Iorio als Melvil diese Emotionen schauspielerisch darstellen. Je nach Temperament wird man diesen darstellerischen Parforceritt des Innerlichen für ausgesprochen bewundernswert oder auf Filmlänge ermüdend halten, wobei die Präsenz und die instinktive Präzision der dreijährigen Zoé Iorio, die ein 17 Monate altes Kind spielt, schon unerhört beeindruckend ist.