Mit dem Selfie-Stick in der Hand präsentiert die Mutter ihre „gewöhnliche, finnische Familie“. Mama, Papa, Tochter und Sohn: sanft eingepackt in die pastellfarbenen Uniformen des Bürgertums, die Pullover über die Schultern der rosa Polohemden gebunden, perfekt spontan für einen Gruß in die Kamera auf die Couch gesprungen. Im Hintergrund: ein Wohnzimmer aus dem Katalog; so leblos wie die plastinierte Kernfamilie selbst, so eindeutig Fassade, dass man nur auf den Moment wartet, der sie zum Einsturz bringt. Tatsächlich lässt besagter Moment nicht lange auf sich warten: Ein Vogel verirrt sich in die Imitation des Familienalltags, landet auf dem Kronleuchter, der kurz darauf in den Glastisch kracht, und wird schließlich von Tochter Tinja (Siiri Solalinna) eingefangen. Sie übergibt das Tier der Mutter (Sophia Heikkilä), die es nicht aussetzt, sondern ihm den Hals umdreht, ihr Vorzeige-Lächeln wiederfindet und der Tochter befiehlt, den Vogel im Biomüll zu entsorgen.
Ein Ei von Menschengröße
Für die Tochter ist der tote Vogel kein Abfall. Die Nacht ist entsprechend schlaflos. Als sie schließlich aufsteht, um nach dem Tier zu sehen, ist es fort. Tinja folgt den Schreien des noch immer sterbenden Vogels in den Wald. Mit einem Stein versucht sie die Qualen des Tiers zu beenden. Wieder und wieder schlägt das Mädchen auf das Tier ein. Als sie die Augen öffnet, erblickt sie neben dem zertrümmerten Kadaver des Vogels ein unversehrtes Ei. Tinja brütet es aus. Sie versteckt es unter der Bettdecke, teilt ihre Wärme und ihre Tränen mit ihm. Das Ei wächst. Nicht etwa auf die Größe eines schlüpffähigen Kräheneis, sondern auf Menschengröße.
Das Wesen, das sich schließlich seinen Weg durch die Schale bricht, ist, wie Hanna Bergholms Debütfilm selbst, ein Hybrid. Eine symbiotische Beziehung spinnt sich an, die als eine Art düsteres Märchen beginnt und sich zu einer nicht weniger abgründigen Coming-of-Age-Geschichte wandelt. Der Versuch, diese Motive mit denen des Body Horror und der Satire in Einklang zu bringen, gelingt Bergholm nur bedingt. Umso effektiver ist „Hatching“ dort, wo er auf seine zentrale Metapher konzentriert bleibt. Die ist eben nicht hochkomplex, aber sie hat Schlagkraft.
Das Grauen der gewöhnlichen Familie
Die Kreatur, die zunächst wie ein menschengroßes Vogelbaby anmutet, in dessen grotesken Leib noch Zähne, Nasenlöcher und Augen als Rudimente des Menschlichen eingewachsen sind, nähert sich in ihrer Gestalt sukzessive der des Mädchens an. Sie schläft unter Tinjas Bett, isst ihr Erbrochenes, spürt ihren Schmerz. Das eigentliche Grauen, wie es der satirische Einstieg in den Film bereits mehr als andeutet, bringt nicht dieser Vogel-Mensch-Hybrid in die Welt, sondern die absolute Leblosigkeit der „gewöhnlichen finnischen Familie“.
Ihr sozialer Status und das fest eingebrannte Lächeln der Mutter kaschieren deren Dysfunktionalität zumindest nach außen. Was sich dahinter offenbart, ist mit dem Wort Familie kaum zu greifen. Der Vater (Jani Volanen) duckt sich so auffällig vor Frau und Kindern weg, dass man überrascht ist, wenn er sich überhaupt aus seinem Zimmer traut. Die Mutter schläft im eigenen oder im Bett des Liebhabers. Die Affäre wird der Tochter als „Geheimnis zwischen Mädels“ aufgebürdet. Es ist nicht die einzige Bürde für Tinja. Die narzisstische Mutter lebt die eigenen Träume über die Tochter aus, deren Leben in der Folge, abseits der Schule, auf das Turnen beschränkt bleibt; eine Sportart, für die sie weder Begeisterung noch Talent hat, aber dennoch zum rigiden Training gezwungen wird. Freunde gibt es keine.
Ein Trauma wird ausgebrütet
Stattdessen wird ein Trauma ausgebrütet und physisch manifestiert. Die Fleisch werdende Metapher bekommt als groteskes und sorgfältig in Szene gesetztes Nebenprodukt von mütterlichem Narzissmus und väterlicher Teilnahmslosigkeit das psychische Trauma mit dem Körper zu fassen. „Hatching“ übersetzt seinen Subtext in fein gearbeitete „Practical Effects“ und effizient aufgezogene Genremotive: die Essstörung des Mädchens, die zur Nahrung des monströsen Alter Egos wird; die Neubausiedlung, deren bedrückende Gleichförmigkeit nur das nächste Kapitel im Katalog des gutbürgerlichen Grauens ist; der Wald, der nicht belebtes Ökosystem, sondern Monokultur-Wüste ist – der Schrecken gewöhnlicher Verhältnisse.