Verkehrte Welt (2022)

Komödie | Frankreich 2022 | 93 Minuten

Regie: Louis Garrel

Eine impulsive 60-jährige Theaterlehrerin hat sich im Gefängnis in einen Häftling verliebt und heiratet ihn, misstrauisch beäugt von ihrem Sohn. Nach der Entlassung folgt er dem vermeintlich reuigen Stiefvater und entdeckt, dass dieser tatsächlich einen letzten Coup plant. Unverhofft findet sich der Sohn plötzlich in der Rolle eines Komplizen wieder. Eine ungewöhnliche Krimikomödie mit einem vorzüglichen Drehbuch, das immer wieder unerwartete Kippmomente von Humor zu Ernst und umgekehrt parat hat. Der Gangsterplot ist dabei letztlich nur Beiwerk für den dialogischen Schlagabtausch zwischen den ausgezeichnet gespielten Neurotikern. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
L' INNOCENT
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Les Films des Tournelles/Arte France Cinéma/Auvergne Rhône-Alpes Cinéma
Regie
Louis Garrel
Buch
Louis Garrel · Tanguy Viel · Naïla Guiguet
Kamera
Julien Poupard
Musik
Grégoire Hetzel
Schnitt
Pierre Deschamps
Darsteller
Louis Garrel (Abel) · Roschdy Zem (Michel) · Anouk Grinberg (Sylvie) · Noémie Merlant (Clémence Genièvre) · Jean-Claude Pautot (Jean-Paul)
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Komödie | Krimi
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Ungewöhnliche Krimikomödie um einen (Ex-)Häftling, eine ältere Theaterlehrerin, ihren Sohn und dessen beste Freundin.

Diskussion

Ein Axolotl müsste man sein. Bei seinen Führungen durch das Aquarium des Zoos vergisst Abel (Louis Garrel) nicht, die Besonderheiten des mexikanischen Schwanzlurches zu rühmen: ein Leben lang im Larvenstadium bleiben zu dürfen und in der Lage zu sein, verlorene Körperteile nachwachsen zu lassen. Das wäre doch auch etwas für Menschen!

Abel jedenfalls kämen die Eigenschaften seines Lieblingstiers sehr gelegen. Seit dem Unfalltod seiner Frau laviert er zwischen Schuldgefühlen, Unsicherheit und Einsamkeit; dazu kommt noch die Sorge um seine Mutter Sylvie (Anouk Grinberg). Die könnte mit 60 Jahren eigentlich trittsicher im Leben stehen, führt sich nach Meinung ihres Sohnes aber keineswegs wie eine reife, reflektierte Erwachsene auf.

Knast oder Kontaktbörse

Die frühere Schauspielerin gibt Theaterkurse in Gefängnissen und hat sich dabei in einen der Gefangenen verliebt; die Hochzeit mit Michel (Roschdy Zem) muss unbedingt noch hinter Gittern stattfinden, obwohl seine Entlassung wegen guter Führung kurz bevorsteht. Doch die impulsive Frau und der geläutert scheinende Mann wollen nicht damit warten, ihre große Liebe rechtlich zu verankern. Abel allerdings ist skeptisch, denn er hat seine Mutter schon in mehreren ähnlichen Leidenschaftsphasen mit Häftlingen erlebt: „Der dritte in zehn Jahren … Das ist kein Knast mehr, sondern eine Kontaktbörse.“

Der französische Schauspieler Louis Garrel beginnt seine vierte Regie-Arbeit „Verkehrte Welt“ mit der Skizzierung einer komplexen Familienbeziehung, in der die Mutter als das „Sorgenkind“ erscheint. So spontan und sprunghaft Sylvie sich präsentiert, so sehr ist Abel die Stimme der Vernunft.

Mit dem auch durch sein Alter zwischen den beiden stehenden Michel kommt eine weitere Figur hinzu, die für Abel weniger Stiefvater als Konkurrent um die Zuneigung zu Sylvie ist. Dementsprechend ist es eine Form von Eifersucht, als Abel den entlassenen Michel zu verfolgen beginnt. Der erklärt zwar, seine Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben, und hat mit Sylvie das gemeinsame Projekt eines Blumenladens in Angriff genommen. Doch an den Erklärungen, woher das Startkapital dafür kommt, zweifelt Abel, und so steigt er dem Ex-Häftling hinterher, um diesen auf frischer Tat bei neuen kriminellen Umtrieben zu erwischen.

In der Rolle des Komplizen

Michel bemerkt den neuen Stiefsohn rasch und reagiert eher amüsiert als verärgert, bis Abel seine Verfolgungstaktik verfeinert und seinen Argwohn bestätigt findet. Allerdings hat seine Entdeckung unerwartete Folgen. Statt einen Keil zwischen seine Mutter und ihren unerwünschten Partner zu treiben, sieht er sich mit einem Mal in die Rolle von Michels Komplizen gedrängt. Schließlich gehe es um einen „letzten Coup“, mit dem der Traum von einem Blumenladen finanziert werden soll. Und damit um einen Liebesbeweis für Sylvie. Außerdem habe Abel gar keine Wahl, weil ihm bei einer Weigerung Gefahr durch Michels Komplizen drohe.

„Verkehrte Welt“ knüpft insofern an Louis Garrels bisherige Regie-Ausflüge an, als zunächst in eine zwar nicht durch und durch harmonische, aber funktionierende Zweierkonstellation eine dritte Person eindringt. Doch während frühere Inszenierungen, etwa „Zwei Freunde“ (2015) bewusst einfach gehaltene Handlungen besaßen, ist „Verkehrte Welt“ deutlich komplexer angelegt. Garrel setzt geschickt darauf, die Erwartungen der Zuschauer zu hintertreiben, angefangen mit dem von ihm selbst gespielten Protagonisten Abel. Dieser ist keineswegs der eindeutige Sympathieträger des Films, obwohl er aus guten Gründen handelt und mit seinem Misstrauen komplett richtig liegt. Als Regisseur wählt Garrel jedoch immer wieder die Außenperspektive auf das Vorgehen von Abel, das auf diese Weise manisch-egoistische Züge bekommt – eine smarte kleine Reflexion in Sachen filmischer Sympathielenkung. Zudem sprechen Sylvie, Michel und auch Abels beste Freundin Clémence (Noémie Merlant) offen aus, dass sie sein Verhalten missbilligen und er das Glück des frischgetrauten Paares zu zerstören drohe.

Diese Wahrnehmungsverschiebungen ziehen sich auch durch die Inszenierung, indem sich vermeintlich ernste Situationen wiederholt als Spiel oder Probe herausstellen. In die Planung des Überfalls auf einen Transporter für Kaviar wird bewusst ein theatralisches Manöver integriert, bei dem Abel und die eingeweihte Clémence einen Beziehungsstreit in der Autobahnraststätte vorspielen sollen, um den Lkw-Fahrer abzulenken. Bei der Durchführung funken jedoch die bis dahin unterdrückten Gefühle zwischen den platonischen Freunden dazwischen, was der Szene einen unbeabsichtigten Ernst verleiht.

Souverän inszenierte Kippmomente

Souverän versteht es Garrel als Regisseur, solche Kippmomente umzusetzen und die Stimmung in der Schwebe zwischen Tragikomödie und Krimi zu halten. Zugleich zieht er bei der detaillierten Umsetzung des Überfalls auch die Spannungsschraube an, wenn der vermeintlich sichere Plan an unvorhergesehenen Störungen zu scheitern droht. Bei den Krimi-Aspekten profitiert „Verkehrte Welt“ wohl auch von der einschlägigen Erfahrung des Co-Drehbuchautors Tanguy Viel in diesem Bereich, selbst wenn das Gangstermilieu eher grob gezeichnet ist und sich die Stärken des Genres vor allem in den prägnanten rauen Dialogen und einigen Actionsequenzen zeigen.

Ein gewisser Fremdkörper innerhalb der filmischen Erzählung bleibt der Einbruch der Unterwelt auch deshalb, weil Louis Garrel sich im überschaubaren Kosmos (nichtkrimineller) neurotischer Zeitgenossen erkennbar heimischer fühlt. Davon zeugen nicht zuletzt die vier präzise entworfenen Hauptfiguren, unter denen vor allem die beiden weiblichen Charaktere die Handlung vorantreiben und ihre Darstellerinnen glänzen können: Anouk Grinberg als im Herzen störrisch jung bleibende Sylvie ebenso wie Noémie Merlant als neckisch-kesse, insgeheim aber tief verletzte und unberechenbare Clémence. Neben ihnen haben die Männer nur die Chance, zu reagieren und das Beste zu hoffen.

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