Als die 33-jährige Hélène die Diagnose einer Lungenfibrose erhält, muss sie nicht nur ihren Job in Bordeaux und die Pläne einer Familiengründung aufgeben. Für die seltene Erkrankung, die mit dem Ersticken endet, gibt es keine Heilung. Nur eine Lungentransplantation könnte die Lebenszeit um einige Jahre verlängern. Für Hélènes Mann Mathieu ist das eine Option, die den Schrecken und die Ohnmacht etwas mildert. Hélène kann seine Hoffnung aber nicht teilen. Denn eine Garantie, dass ihr Körper das fremde Organ annimmt, bekommt sie nicht, und die Aussicht auf ein qualvolles Dahinsiechen im Krankenhaus macht ihr Angst.
Wenn sie über ihre Sorgen spricht, wehrt Mathieu alle Einwände ab und klammert sich zunehmend genervt an das Versprechen der Ärzte, Hélène möglichst bald einen Operationstermin anzubieten. Während der Wartezeit nimmt sie allmählich die Verschlechterung ihres Zustands wahr. Immer häufiger muss sie ihr Sauerstoffgerät mitnehmen, wenn sie etwa ein Konzert besuchen will. Beim Sex, wenn sie die aktive Rolle übernehmen möchte, bekommt sie Hustenanfälle und bricht vor Erschöpfung zusammen.
Das nahende Ende vor Augen, beginnt sie Blogs von Krebspatienten zu lesen. Mit den humorvoll-trockenen Kommentaren des Norwegers Bent kann sie sich besonders identifizieren. Sie nimmt per Internet Kontakt auf und beschließt gegen den Willen von Matthieu eine Reise nach Norwegen zu unternehmen, in Bents abgelegenes Fjord-Haus, solange ihre Kräfte es noch zulassen.
Eine behutsame Annäherung an den Tod
Je länger man der großartigen Vicky Krieps in „Mehr denn je“ dabei zuschaut, wie sie ihre Figur mit ihrem Schicksal hadern lässt, desto mehr staunt man über ihr Gesicht, das mit dem kleinsten Zucken den Sturm in ihrem Innern auszudrücken vermag. Wenn sie in einem menschenleeren Gebirge wandern geht oder im See badet, ahnt man die Gedanken, die ihr durch den Kopf gehen müssen. Die deutsch-französische Regisseurin Emily Atef inszeniert ihre „Love Story“ als behutsame Annäherung an den Tod, mit meisterlicher Strenge, Sinn für Intimität und zugleich einer die kostbare Lebenszeit feiernden Unmittelbarkeit. Sie lässt die Kamera immer wieder aus dem Wasser heraus vorbeifliegende Möwen beobachten, eine von den Leiden der Menschen unbeeindruckte Natur, die in ewiger Wiederkehr weiter existieren wird, während Hélène allmählich buchstäblich den Lebensatem verliert.
Um mit Matthieu übers Handy sprechen zu können, muss sie schwer keuchend auf einen Berg steigen. Nur hier funktioniert der Empfang und auch andere Bewohner der Gegend müssen die gleichen Strapazen auf sich nehmen, um die Verbindung zur Welt zu halten, jeder für sich allein, ohne mit den anderen ein Wort zu wechseln. Allein trifft Hélène auch ihre Entscheidung, auf die Transplantation zu verzichten. Matthieu ist alarmiert, da er spürt, dass er sie nicht wird umstimmen können. Auch nicht, als sie einige Tage gemeinsam am Fjord verbringen, in innigster Zweisamkeit und doch schon Abschied nehmend.
Die letzte Rolle von Gaspard Ulliel
Gaspard Ulliel kommt in diesen gefühlsgeladenen Momenten der undankbare Part zu, sich immer mehr zurücknehmen zu müssen. Die Aggressionen gegen Bent am Anfang verpuffen im Schmerz über den drohenden Verlust. Seine Stimme wird leiser, die Gesten langsamer, das Loslassen ist der einzige Ausweg aus einem Dilemma, das ihn zur Resignation zwingt. „Die Lebenden können die Sterbenden nicht verstehen“, sagt einmal Bent. Für Matthieu gilt das nicht. Er akzeptiert Hélènes Willen, ihre letzten Schritte ohne ihn zu gehen, und lässt sie und uns am Hafen zurück, mit ihrer Verzweiflung und auch mit unserer Verlegenheit darüber, den im Januar 2022 beim Skifahren verunglückten Schauspieler in seiner letzten Rolle zu sehen – ein unangekündigtes Sterben in einem nie überdramatisierten, grandiosen Liebesschattenwurf.