Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien
Dokumentarfilm | Österreich 2022 | 120 Minuten
Regie: Constantin Wulff
Filmdaten
- Originaltitel
- FÜR DIE VIELEN - DIE ARBEITERKAMMER WIEN
- Produktionsland
- Österreich
- Produktionsjahr
- 2022
- Produktionsfirma
- Navigator Film
- Regie
- Constantin Wulff
- Buch
- Constantin Wulff
- Kamera
- Johannes Hammel · Michael Schindegger
- Schnitt
- Dieter Pichler
- Länge
- 120 Minuten
- Kinostart
- 27.04.2023
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Dokumentarfilm im Stil des Direct Cinema über die österreichische Arbeiterkammer, eine einzigartige Institution, die sich um die Belange von Arbeitnehmern – auch während der Pandemie – kümmert.
Seit fünf Monaten haben die Bauarbeiter keinen Lohn mehr erhalten, klagt der Bauleiter. Alle seien am Limit und wüssten nicht, wie sie weiterleben sollen. Er schildert die Situation in einem Büro, in dem man ihm aufmerksam zuhört und den Sachverhalt notiert. Ein Mitarbeiter erklärt der Gruppe der Übervorteilten laut und deutlich, wie es weitergeht, denn nicht alle sprechen fließend Deutsch. Der andere ist ein Jurist, der die Baufirma verklagen wird. Das Büro befindet sich in der Vertretung der österreichischen Arbeiterkammer (AK) in Wien.
Die 1920 gegründete Arbeiterkammer fungiert als gesetzliche Vertretung für alle Arbeitnehmer in Österreich. Hat man Probleme mit Arbeitsverträgen, Arbeitsbedingungen oder wird von Arbeitgebern um den Lohn geprellt, findet man hier Trost, Beratung und Rechtsbeistand. 700 Menschen arbeiten bei der AK Wien; täglich werden Dutzende von Beratungen durchführt. Für Regisseur Constantin Wulff war der 100. Geburtstag dieser einzigartigen Institution der Anlass, ihren Alltag in ihrer Niederlassung in Wien zu filmen und dadurch ihre Geschichte und Funktionsweise darzulegen.
Eine rote Faust, mannshoch
Im Eingang des riesigen Gebäudes der AK Wien steht eine fast mannshohe moderne Skulptur: eine aus vielen Nadeln zusammengesteckte rote Faust – das Symbol der Arbeiterklasse. Denn auch im 21. Jahrhundert existieren noch jede Menge Ungleichheit und Ausbeutung, was der Film „Für die Vielen“ anhand des Schicksals einzelner Arbeiter und Angestellter verdeutlicht. Sie werden eingeschüchtert, erpresst und betrogen. Aus rein profitorientierten Gründen tricksen Unternehmer oder entlassen Angestellte skrupellos und unter fadenscheinigen Gründen aus dem Beschäftigungsverhältnis. Andere erhalten schlicht keinen Lohn.
In der Empfangshalle der AK Wien werden die Hilfesuchenden – viele von ihnen sind aufgelöst, verzweifelt oder am Ende ihrer Kräfte – freundlich empfangen und in die Beratungszimmer geschickt. Mehrsprachige Mitarbeiter tun dies auch auf Serbisch, Ungarisch oder in anderen Sprachen. Wenn sich eine juristische Auseinandersetzung nicht vermeiden lässt, unterschreiben die Arbeitnehmer eine Vollmacht, damit die AK sie vor Gericht vertreten kann.
Während das Gebäude von außen wie ein großer grauer Koloss anmutet, haben sich die Innenarchitekten wirklich Mühe gegeben. Mit ihren metallenen Querbalken und roten Sitzelementen erscheinen die Flure und Warteräume zwar wie Orte aus einem Science-Fiction-Roman, so futuristisch wirken Fahrstühle wie Büros. Doch der Film schaut hinter die Kulissen und beleuchtet überdies die Führungsetagen der AK Wien. Anlässlich des Jubiläums plant man dort eine digitale Kampagne samt Werbespot. Darin appellieren die Macher mit Tempo, Musik und Gefühl vor allem an jüngere Menschen und promoten ihren Hashtag #Gerechtigkeit.
Die Leiter der AK Wien fiebern überdies dem Besuch des französischen Starökonomen Thomas Piketty entgegen, der anlässlich des Erscheinens seines neuen Buches einen Vortrag halten will; deshalb empfiehlt es sich, seine sehr umfangreichen Werke vorab noch einmal zu studieren.
Die Pandemie verändert alles
Doch plötzlich erfolgt eine Zäsur, die Folgen für das Funktionieren der AK Wien hat. Die Corona-Pandemie ist auch in Wien angekommen. Die Diskussion mit Piketty findet gerade noch statt, doch das Gros des Publikums ist per Livestream zugeschaltet. Organisatorisch ist das Personal der AK Wien längst mit anderen Dingen beschäftigt. Plötzlich werden Ratsuchende auf Abstand gehalten, einige tragen Latexhandschuhe.
Diese Ereignisse trugen sich im März 2020 zu. Wenn man heute, nach zwei Jahre Erfahrung mit der Pandemie, den Film „Für die Vielen“ sieht, hat man gegenüber den Handelnden im Film einen großen Wissensvorsprung; man blickt auf den Anfang der Pandemiezeit zurück. In den Führungsetagen wurde damals beraten, welche Auswirkungen staatliche Verordnungen wie nächtliche Ausgangssperren oder die Schließung von Geschäften, Lokalen und Dienststellen auf das Funktionieren der AK Wien haben. Die für die Ratsuchenden so wichtigen persönlichen Gespräche werden heruntergefahren; man weicht auf E-Mail-Verkehr und Telefonate aus. Schließlich wird das Gebäude komplett geschlossen und von einer Anlaufstelle zum Geisterhaus. Leere Gänge, Beratungszimmer und Empfangstresen bestimmen nun das Bild.
Auch für den Regisseur Constantin Wulff und seine Crew veränderten sich die Gegebenheiten radikal. Die Dreharbeiten mussten unterbrochen werden. Da Wulff im Stil des Direct Cinema arbeitet, sich von Geschehnissen leiten lässt und ihnen nicht das eigene Konzept überstülpt, fließen diese Veränderungen auch in den Film ein. Einige Monate später geht die Produktion weiter. Die Mitarbeiter der AK werden mal mit, mal ohne Maske gefilmt, und auch die Filmcrew hat sich mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen auf die neuen Zeiten eingestellt.
Flexibel und pragmatisch
Die Fragestellung der AK Wien hat sich ebenfalls erweitert. Wie kann sie in Ausnahmezeiten ihren Betrieb so ausrichten, dass man weiterhin Anlaufstelle bleibt und die meisten Pflichten erfüllen kann, ohne die Mitarbeiter zu gefährden? Es wird digital aufgerüstet; neue Kommunikationskonzepte werden erarbeitet. Als die Mitarbeiter wieder ins Gebäude kommen, ist es mit geselligem Beisammensein vorerst vorbei: Aus der Kantine nehmen sie sich die Essenstabletts mit in ihre eigenen Büros. Sie tragen Masken, genau wie die Putzkräfte im Haus, und achten in Meetings und Besprechungen auf Abstand. Überall werden Trennscheiben installiert.
Die teilweise ohnehin schon dramatische Lage der AK-Klientel verschärft sich durch die Pandemie zusätzlich, denn die Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt sind verheerend. Die AK Wien versucht im Rahmen ihrer Möglichkeiten, sich anzupassen: Kundenberatungen werden hinter Scheiben geführt, vor denen die Hilfesuchenden an langen Tischen mit viel Abstand sitzen und ihre Anliegen vortragen.
Der Dokumentarfilm „Für die Vielen“ entpuppt sich so als spannendes Porträt einer Institution, die in einer durch wachsende Ungleichheit gespaltenen Gesellschaft immer wichtiger wird. Die Herangehensweise des Regisseurs ähnelt dabei der der Institution selbst, da er während des Drehzeitraums flexibel und pragmatisch vorgehen musste. Die österreichische Arbeiterkammer, die inzwischen auf 102 Jahre und eine reiche Historie zurückblickt, stellt sich täglichen Herausforderungen sowie einem gesellschaftlichen Ausnahmezustand. Mit Geduld, Übersicht und einer über die Jahre erprobten Diskussionskultur kämpft sie für mehr soziale Gerechtigkeit, wobei sie an Widrigkeiten wächst und sich ständig neu erfindet.