Evelyn Wang (Michelle Yeoh) ist eine chinesische Immigrantin, die zusammen mit ihrem Mann Waymond und ihrer Tochter Joy einen großen Waschsalon betreibt. Ihr Tag hatte eigentlich gut begonnen, doch unzufriedene Kunden bringen die resolute Frau bald auf die Palme. Gleichzeitig soll sie für das chinesische Neujahrsfest am Abend das Essen für mehrere Dutzend Gäste zubereiten. Die Ansprüche ihres Vaters Gong Gong, der extra zu Besuch kommt, darf sie nicht enttäuschen. Joy will ihre Freundin Becky zu der Party mitbringen – keine gute Idee, denn hinter dieser Freundschaft verbirgt sich eine handfeste lesbische Beziehung, und das muss nicht jeder wissen.
Der Filmtitel wird eingelöst
Doch all das ist nichts gegen die Probleme, die Evelyn mit dem Finanzamt hat. Schon die unzähligen kleinen Berge von Quittungen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapeln, zeugen davon, dass sie es mit dem Absetzen von berufsbezogenen Ausgaben nicht so genau nimmt. Ihr Mann Waymond wollte seiner Frau eigentlich die Scheidungspapiere zur Unterzeichnung vorlegen. Doch jetzt macht er sich auf den Weg zum Finanzamt, um mit der Beamtin (köstlich: Jamie Lee Curtis) die Steuerprobleme zu lösen. Plötzlich macht er eine überraschende Verwandlung durch: Ein zweites Ich aus einem parallelen Universum schlüpft in seinen Körper und verleiht ihm übermenschliche Kung-Fu-Kräfte, die die Bürowaben des Finanzamtes erzittern lassen.
Mit einem Mal ist man mittendrin in einer Erzählung, in der es mehrere Universen gibt. Raum und Zeit lösen sich auf. Jeder Mensch hat auch mehrere Leben in mehreren Parallelwelten und kann sich die Fähigkeiten seiner Alter Egos aneignen – was zahlreiche Möglichkeiten für die Protagonistin von „Everything Everywhere All at Once“ eröffnet. So sind die Menschen eines Universums – in einer etwas neckischen Idee – einmal mit knochenlosen Wurstfingern zu sehen, was schlimme Folgen für das Klavierspiel hat.
Ein sorgsam geplantes Chaos
Ausgedacht haben sich dieses Szenario Daniel Kwan und Daniel Scheinert, die auch als die „Daniels“ bekannt sind. Das Ergebnis ist ein verrückt-nervöses Film-Puzzle, das das Publikum mitunter überfordert. Die Tatsache, dass sich durch die vielen Universen die Szenerie mit Dekors und Kleidung ständig ändert, oftmals innerhalb von Sekunden, sorgt für ein Chaos, in dem man schnell den Überblick verliert. Erschöpft lässt man die Ideenflut an sich vorbeiziehen.
Natürlich ist es ein sorgsam geplantes Chaos. Jede Einstellung, jeder Sound-Effekt, jeder visuelle Gag steht dort, wo ihn die Regisseure haben wollen. Jedes Universum hat seinen eigenen Look und seine eigene Atmosphäre. Doch die Kakophonie an akustischen und visuellen Eindrücken, die vom Ideenreichtum der Macher zeugt, verleiht dem Film eine frenetische Hyperaktivität. Gewiss muss man die Ambitionen der Regisseure anerkennen, ebenso die gewissenhafte, haargenaue und feinziselierte Arbeit, mit der sie die rasanten Bilderfolgen zusammengesetzt haben. Dennoch ist „Everything Everywhere All at Once“ ein Film, der in seiner Kompliziertheit nur schwer zu greifen ist. Irritiert sucht man nach Orientierung und findet Halt in Einzelaspekten, zum Beispiel in Michelle Yeoh als Zentrum des Films, um das sich alles dreht.
Yeoh kann darin nicht nur die ganze Bandbreite ihrer Fähigkeiten ausspielen, von der körperbetonten Martial-Arts-Expertin bis zur begnadeten Komikerin mit perfektem Timing. Sie verweist auch immer wieder auf ihre eigene Filmografie, von ihren Anfängen im Hongkong-Kino der 1980er-Jahre, etwa „Powerman II“ (1985), bis hin zu „Tiger & Dragon“ (2000). Die Kampfszenen sind perfekt inszeniert, so überraschend sie in diesem alltäglichem Umfeld auch wirken mögen. Höhepunkt ist jene Szene, in der Waymond (Ke Huy Quan) mit einem kleinen, an einem Seil befestigten Sack seine Gegner im Finanzamt geschickt ausknockt. Nicht zu vergessen Jamie Lee Curtis, die mit hässlichem Haarschnitt und altmodischen Klamotten kaum wiederzuerkennen ist. Ihre Rolle als pedantische, aber auch machtbewusste Steuerprüferin macht ihr sichtlich Spaß.
Zwei Steine in der Wüste
Der Humor entsteht dabei vor allem durch die Missverständnisse, die Evelyns rudimentäre Englischkenntnisse auslösen. Vielleicht hat das Ganze auch etwas zu bedeuten, da es im Kern hier um eine Mutter geht, die das Scheitern des amerikanischen Traums beklagt und gleichzeitig lernen muss, ihre Tochter loszulassen. So ist auch das Bild zu verstehen, in dem Evelyn und Joy in einem Universum als große Steine in der Wüste erscheinen. Unverrückbar stehen sie nah beieinander, die Verbundenheit könnte nicht größer sein. Bis sich einer der Steine tapsig auf den Weg macht.