Geographies of Solitude

Dokumentarfilm | Kanada 2022 | 103 Minuten

Regie: Jacquelyn Mills

Seit Jahrzehnten erforscht die Ökologin Zoe Lucas die Flora und Fauna auf Sable Island, einer entlegenen Insel vor der Ostküste Kanadas, und dokumentiert ein von menschlichen Einflüssen weitgehend unbeeinflusstes Ökosystem. Die Experimentalfilmerin Jacquelyn Mills begleitet sie dabei, hält ihre akribische Arbeit auf 16-mm-Film fest und taucht durch Montage und Verfremdung des Materials in die Tiefenstrukturen und die Schönheit des Lebens ein. Die Natur erscheint als überwältigender Ort der Stille und des fortwährenden Werdens und Vergehens, wobei große Mengen an Plastikmüll die Bedrohung dieser Welt verdeutlichen. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
GEOGRAPHIES OF SOLITUDE
Produktionsland
Kanada
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Rosalie Chicoine Perreault/Jacquelyn Mills
Regie
Jacquelyn Mills
Kamera
Jacquelyn Mills · Scott Moore
Musik
Andreas Mendritzki · Jacquelyn Mills
Schnitt
Jacquelyn Mills · Pablo Alvarez-Mesa
Darsteller
Zoe Lucas
Länge
103 Minuten
Kinostart
20.10.2022
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Naturfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Seit Jahrzehnten erforscht die Wissenschaftlerin Zoe Lucas Flora und Fauna auf einer Insel vor der Küste Kanadas. Die Experimentalfilmerin Jacquelyn Mills begleitet sie zu Dünen und Süßwassertümpeln, zu Wildpferden und angespültem Plastikmüll.

Diskussion

Aus dem tiefen Schwarz der Leinwand erstrahlt ein Sternenmeer. Kein Lichtsmog dämpft die Leuchtkraft; die Intensität der Aufnahme ist ebenso ergreifend wie verblüffend. Wann hat man mit bloßem Auge schon einen solchen Nachthimmel gesehen? Die kanadische Filmemacherin Jacquelyn Mills lotet in „Geographies of Solitude“ auch die ästhetischen Mittel des Kinos aus, um Naturerfahrungen zu ermöglichen und zu figurieren. Ein Prozess, der Zeit und Ruhe braucht, um das Beziehungsgeschehen der materiellen Welt für Zuschauer zu entfalten.

Im Dunkel des nächtlichen Raums taucht ein Lichtkegel auf. Langsam werden die Umrisse einer Person erkennbar. Wie ein guter Geist streift Zoe Lucas, die Protagonistin des Films, durch die menschenleeren Strände von Sable Island vor der Ostküste Kanadas. Halbmondförmig und 42 Kilometer lang erstreckt sich die unbewohnte Insel vor dem Kap von Nova Scotia. Seit Jahrzehnten erforscht Zoe Lucas, die ursprünglich Kunst studierte, dort Flora und Fauna. Mit großer Sorgfalt dokumentiert sie jedes noch so kleine Lebewesen, das Teil eines komplexen Ökosystems ist. Im Zuge der Kolonialisierung wurden vor Jahrhunderten Pferde und andere Nutztiere auf das Eiland gebracht und schließlich sich selbst überlassen und vergessen. Da die Tiere dort keine natürlichen Feinde haben, vermehrten sie sich und entwickelten sich überdies anders als ihre Artgenossen auf dem Festland. Über fünfhundert wilde Pferde grasen heute auf Sable Island. Ähnlich wie auf den durch Charles Darwin berühmt gewordenen Galápagos-Inseln lassen sich Spezies beobachten, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt.

Eine Passion für die Wunder der Natur

Jacquelyn Mills nähert sich der Protagonistin behutsam durch das gemeinsame Beobachten ihrer Arbeit. Mit einem GPS-Gerät ortet die Forscherin jede Spur, nimmt Proben aus Dung, um auch Mikroorganismen in ihre Untersuchungen miteinzubeziehen. In akribischer Arbeit werden die Notizen später in ihrer kleinen Holzhütte in einen Laptop eingegeben. Die Excel-Tabelle reicht bis in die 1980er-Jahre zurück; sie sei wahrscheinlich die umfangreichste ihrer Art, kommentiert Lucas lachend. Eigentlich hatte sie schon vor langer Zeit mit ihren Forschungen aufhören wollen. Doch die Passion für die Insel und ihre Wunder ist stärker. Eine Begeisterung, die sich überträgt.

Durch die lyrischen 16-Millimeter-Filmaufnahmen, die Mills für das Porträt nutzt, beginnt man die Welt neu, ja wie zum ersten Mal zu sehen. Ein schimmernder Käfer tastet sich behutsam einen Weg durch die Dünen. In der langen Naheinstellung der Kamera eröffnet sich eine Perspektive auf das Leben der Insekten als fühlende, auf ihre Umgebung bezogene Wesen. Auch der Blick auf ein totes Pferd in seinem Verwesungsprozess vermittelt eine intensive Erfahrung. Ekel und Abwehr verwandeln sich in Neugier, Faszination und eine ambivalente Betroffenheit. Behutsam schiebt Lucas die verbliebene Haut zur Seite, um im Inneren des zerfallenden Körpers eine ganz eigene Welt freizulegen. Fliegen und Asseln sind dabei, ihn in Mineralien zu verwandeln, die bald schon in die Erde einsickern und die Vegetation erneut zum Blühen bringen werden.

Experimentelle Arbeit mit dem Filmmaterial

Die große Leistung von Jacquelyn Mills besteht darin, durch die Auseinandersetzung mit dem Materiellen in jeder Einstellung eine intime Erfahrung zu ermöglichen. Das gelingt durch Mills’ Gespür für Rhythmus und Abstraktion, die jedes Bild auf eine diskrete, schwer in Worte zu fassende Schönheit hin öffnen. Wenn der Wind die Zweige des Schilfs bewegt, ereignet sich durch das filmische Bild eine spontane Choreografie. Ökologien sind Wirkungszusammenhänge. Das macht „Geographies of Solitude“ auch durch die experimentelle Arbeit mit dem filmischen Material sichtbar.

Mills beginnt die 16mm-Filmrollen im Mondlicht auf der Insel zu entwickeln. Algen und Pferdehaar verschmelzen mit dem Material, das sie im Dung versenkt. Mills bastelt sich Kontaktmikrofone, um die Geräusche der Käfer einzufangen und mit elektronischer Musik für den Zuschauer in eine abstrakte Sinfonie zu verwandeln. Es ist die sinnliche Ebene, die Menschen an der Kommunikation der Welt teilhaben lässt und deutlich macht, wie man in sie eingebettet ist. Daraus ergibt sich auch eine ethische Dimension der Verantwortung.

So hört man im Off Zoe Lucas in einem Vortrag über die Insel mehrfach betonen, wie wichtig die Rolle der Erfahrung für das ökologische Bewusstsein ist. „Geographies of Solitude“ zeigt dies mit seinen eigenen Mitteln: ohne moralische Anklage, als Entfaltung einer ästhetischen Teilhabe an der Umwelt.

Plastikmüll, sortiert nach Farben

Neben den Spuren des Lebens registriert Lucas aber auch die der Zerstörung. Plastik wird an die Strände von Sable Island angespült. Großer Kabelmüll, der den Sand festhält und neue Dünen produziert. Aber auch kleinste Partikel, die von den Seevögeln verschluckt werden. Lucas sammelt, notiert und reinigt jedes einzelne Teil, sortiert es nach Farben, sodass erneut ein sinnlicher Eindruck entsteht.

Die Gespräche zwischen den beiden Frauen bleiben meist fragmentarisch und diachron wie Traumgedanken. Auch dadurch geht der Film vom Dokumentarischen ins Künstlerisch-Essayistische über. „Geographies of Solitude“ konfrontiert die Zuschauer mit ihrer eigenen Entfremdung von der Umwelt und schafft durch sein ästhetisches Verfahren zugleich etwas, das Siegfried Kracauer „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ durch die materielle Arbeit des Films an der menschlichen Erfahrung genannt hat.

Kommentar verfassen

Kommentieren