Rottet die Bestien aus!
Dokumentarfilm | USA 2021 | 232 Minuten
Regie: Raoul Peck
Filmdaten
- Originaltitel
- EXTERMINATE ALL THE BRUTES
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 2021
- Produktionsfirma
- Velvet Film/HBO Documentary Fimls
- Regie
- Raoul Peck
- Buch
- Raoul Peck
- Kamera
- Kolja Brandt · Stéphane Fontaine
- Musik
- Alexei Aigui
- Schnitt
- Alexandra Strauss
- Darsteller
- Josh Hartnett
- Länge
- 232 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm | Serie
Vierstündige Miniserie über die Wurzeln und Strukturen, aus denen Rassismus, Sklaverei und Völkermord entspringen.
Schon der Titel ist eine sarkastische Herausforderung der eurozentrischen Perspektive: „Rottet die Bestien aus!“ Wer in dem vierteiligen Dokumentar-Essay von Raoul Peck die Bestien sind, liegt auf der Hand: die Kolonisatoren, Völkermörder und Eroberer, die sich durch die Jahrhunderte und über die Kontinente hinweg gebrandschatzt haben. Peck nimmt sich in dieser dokumentarischen Serie der geschichtsumspannenden Mechanismen zwischen Eroberung, Expansion und Machtausweitung auf der einen, und Rassismus, Genozid und Sklaverei auf der anderen Seite an, die für ihn die Eckpunkte eines sich über die Jahrhunderte hinweg wiederholenden Systems sind.
Sarkastisch ist diese Herausforderung deshalb, weil Peck für seinen Titel ein Zitat aufgreift, das im Original die kongolesische Bevölkerung meint, die in den 1880er-Jahren von Belgien unter der Regentschaft von König Leopold II. brutal überfallen und ausgeraubt wurde – für Diamanten, Edelmetalle, Elfenbein, später für Erdöl und natürlich für den Menschenhandel. Der Ausspruch stammt aus der Joseph-Conrad-Novelle „Herz der Finsternis“ aus dem Jahr 1899. Der gierige Oberst Kurtz kritzelt ihn als Randnotiz auf seinen Bericht aus dem Kongo-Delta: „Exterminate all the brutes“, heißt es im englischsprachigen Original.
Im Namen der Opfer
Raoul Peck verwendet das Zitat bewusst gegen den Strich und zitiert damit zugleich den schwedischen Historiker, seinen Freund Sven Lindqvist, der in seinem gleichnamigen Buch „Durch das Herz der Finsternis“ den Völkermord der europäischen Kolonisatoren in Afrika analysiert. Pecks Dokumentarserie versteht sich nicht als wissenschaftliche Ergänzung zur Geschichtsschreibung, sondern als Vernetzung seines persönlichen Recherchestands. Die Spannweite seiner Betrachtung ist beachtlich – von den Kreuzzügen in den Nahen Osten, über die spanische Inquisition, die Eroberung Amerikas und Afrikas durch die Europäer bis hin zum Holocaust betrachtet Peck die Geschichte der Kolonisierung als jahrhundertlange Vorherrschaft des Rassismus – und als großen blinden Fleck der weißen Geschichtsschreibung. „Es fehlt uns nicht an Wissen. Was fehlt, ist der Mut zu begreifen, was wir wissen und daraus Konsequenzen zu ziehen“, stellt Peck trocken fest. Er rekapituliert diese Geschichte nun im Namen der Opfer, nicht der Täter.
„Rottet die Bestien aus!“ ist ein Rundumschlag gegen westliche Seh- und Lesegewohnheiten, gegen die Geschichte und Geschichten, die sich die westlichen Gesellschaften von ihrer vermeintlichen biologischen und intellektuellen Überlegenheit und ihrem zivilisatorischen Auftrag erzählen. Dem Selbstbild von Europa als Wiege von Humanismus, Demokratie und Gemeinwohl, den Dichtern und Denkern der europäischen Aufklärung stellt Peck kaltschnäuzig Fakten entgegen und verrückt so die Perspektiven.
„Rottet die Bestien aus!“ beginnt da, wo Pecks Film „I Am Not Your Negro“ (2016) über den afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin aufhörte: bei der schonungslosen Benennung von Unwahrheiten, die sich über die Zeit als gängiger Konsens etabliert haben. Etwa dass die USA ein Land der Immigranten und Siedler seien. Dass all dem ein gewaltiger Völkermord vorausging, damit die Europäer das Land der Indigenen für sich besiedeln konnten, sei zwar Allgemeinwissen, aber nicht Teil der Narration, so Peck.
Das macht die Serie auch zu einer Sprach- und Medienkritik, denn geläufige Begriffe wie die „Entdeckung Amerikas“ durch Christopher Kolumbus oder die „Besiedlung“ dieser neu entdeckten Kontinente blenden die barbarischen Kriege gegen Stämme und Völker aus. Die Existenz ganzer Nationen fußt auf einem aktiv herbeigeführten blinden Fleck, der Gewissen und Selbstgerechtigkeit gleichermaßen ermöglicht.
Die gesamte Historie im Blick
So wie Peck schon in „I Am Not Your Negro“ die Erinnerungen des Schriftstellers James Baldwin in zeitgeschichtliche Betrachtungen und seine persönlichen Erfahrungen einbettete, ist „Rottet die Bestien aus!“ eine diskursive Collage über die wiederkehrenden Strukturen, die Kolonialismus, Völkermord, Sklaverei, Faschismus und die Proklamierung einer „white supremacy“ ermöglichen - und über die Vorhersehbarkeit, mit der sie sich wiederholen.
Der Mehrteiler umspannt narrativ die gesamte Bandbreite zwischen Geschichtsstunde und autobiografischer Reflektion. Statt auf Minimalismus setzt Peck auf einen Maximalismus, der die Gesamtgeschichte in den Fokus nimmt. Das würde vielen vermutlich aus dem Ruder laufen, doch Raoul Peck verwebt sämtliche Erzähl- und Gedankenstränge zu einem vielstimmigen und sich gegenseitig ergänzenden Stimmenchor.
„Rottet die Bestien aus“ funktioniert wie ein Kompendium aus Geschichte, Kommentar und eloquenter Wut. Das kann und soll man nicht in einem Durchgang konsumieren oder begreifen. Diese Dokumentarserie muss man stückweise durcharbeiten, mitnotieren und zurückspulen, um die eigene Perspektive und Erfahrungswelt anschließen zu können. Allein die Sachbücher, die Peck beiläufig erwähnt und paraphrasiert, ergäben Lesestoff für mehrere Wochen. Neben Lindqvist hebt er vor allem Roxanne Dunbar-Ortiz hervor, die die erste Geschichte der USA aus der Perspektive der indigenen Stämme erzählt hat; und daneben auch Michel-Rolph Trouillot, der den Zusammenhang zwischen Macht und Schweigen am Beispiel der Revolution in Haiti aufarbeitete.
Peck macht zudem Lust auf ein Neu- und Wiedersehen der Filmgeschichte aus seiner Perspektive und nicht zuletzt auch seines eigenen Filmschaffens. Ja, man mag es ihm als Selbstinszenierung auslegen, dass er aus einem eigenen Werk zitiert. Doch nur weil er auch seine eigene Geschichte preisgibt und reflektiert, werden seine Perspektive und sein Gestus verständlich. Raoul Peck, in Haiti geboren und mit seiner Familie in Kongo und den USA aufgewachsen, lebte in Paris und Berlin – also immer auch in den Ländern der europäischen Unterdrücker.
Auf der Suche nach einem neuen Realismus
Er kann und will nicht der neutrale Beobachter von außen sein. Wie könnte man auch eine so groß angelegte Geschichte erzählen, ohne sich selbst darin zu verorten? Genau das will er bei jedem und jeder Einzelnen erreichen. Deshalb macht er sich selbst zum Ich-Erzähler und arrangiert historisches Archivmaterial, nachgestellte Szenen, kulturgeschichtliche Kontextualisierung, Schaubilder, Daten, Aufzählungen, Filmausschnitte und seine persönliche Biografie zu einem eloquenten und assoziativen Essay, der seine Gedankenstruktur und seine eigenen Unsicherheiten offenlegt.
Gleich zu Beginn des ersten Abschnitts inszeniert Peck das Aufeinandertreffen des indigenen Stamms der Semiolen mit einem Regiment der Konföderierten während des Sezessionskrieges. Sein Fokus liegt auf einer indigenen Frau, die stoisch und stolz in die Kamera blickt und die er im Kommentar mit seiner Mutter vergleicht. Unerwartet öffnet er die Kameraeinstellung und zeigt die Filmcrew, andere Darsteller auf Pferden, die Technik. Die Darstellerin sei Schwedin mit kolumbianischen und indigenen Wurzeln, erzählt er und zerstört damit bewusst die Leinwandillusion. Peck, das macht er hier sowohl formal als auch narrativ deutlich, ist auf der Suche nach einem neuen Realismus, der auch die mediale Produktion mitdenkt, um Reflektion und Diskurs statt Mythenbildung und Repräsentation statt Whitewashing als Standardhaltung zu etablieren. Deshalb besetzt er auch die Rolle des Unterdrückers in sämtlichen Reenactments immer mit demselben Schauspieler – Josh Hartnett, das einzige bekannte Gesicht und somit Repräsentant einer überdurchschnittlich weißen Medienlandschaft, tritt hier als beiläufig brutaler Jedermann auf.
Peck dreht diesen Zugang zuletzt auch noch einen Schritt weiter, wenn er in diesen Reenactments unkommentiert provokative und zum Teil revisionistische Fiktionalisierungen einflicht, die beim ersten Sehen wie ein Tippfehler wirken, aber nach einem Wimpernschlag wieder vorbei sind: Etwa wenn er sich vorstellt, Christopher Kolumbus und seine Besatzung seien beim ersten Landgang auf dem heutigen Haiti direkt von den Einheimischen niedergestreckt worden oder wenn afrikanische Geistliche weiße Kinder in Ketten durch den Dschungel zum nächsten Sklavenmarkt zerren. Sein neuer Realismus macht auch Platz für Gedankenspiele, die in kurzen Blitzlichtern die Absurdität des ganzen Systems verdeutlichen.
Ein Angebot zur Kommunikation
Der Maximalismus von Raoul Peck wirkt auf den ersten Blick wenig bescheiden, ist aber genau das: bescheiden. Denn indem Peck seine eigene Familiengeschichte als Teil einer großen Dynamik betrachtet, nimmt er sich selbst weniger wichtig, sondern sieht seine individuelle Geschichte als Teil eines Ganzen. Was seine Vorbilder in Schriftform aufgearbeitet und praktiziert haben, einen biografisch-essayistischen Zugang zu historisch übergreifenden Zusammenhängen, in denen sie selbst nur ein kleines Zahnrädchen sind, überträgt Peck auf das filmische Medium.
Die Leichtigkeit, mit der er zwischen schier unendlichem Archivmaterial, Filmausschnitten und Familienalben wechselt, hebt die anfängliche Überforderung angesichts dieser Materialflut auf. Peck will niemand mit akademischer Überheblichkeit erschlagen, sondern bietet für jede Perspektive und jeden Wissensstand einen Ansatzpunkt. Denn das ist „Rottet die Bestien aus!“ vor allem: ein Angebot zur Kommunikation und zum Diskurs auf Augenhöhe. Für Peck sind diejenigen die Bestien, die für sich beanspruchen, über anderen zu stehen.