Sprache bildet soziale Wirklichkeit ab, formt sie aber auch. Manchmal denkt sie gesellschaftliche Verknüpfungen voraus, die ihren „Erfindern“ nicht mal im Traum eingefallen wären. So etwa das Wort „Unrueh“, das dem Film von Cyril Schäublin seinen doppelsinnigen Titel schenkt. „Unrueh“, Schwyzerdütsch für „Unruhe“, nennt sich das in vielen mechanischen Uhrwerken verwendete Schwingsystem, das das Räderwerk antreibt und in der richtigen Balance hält.
In den 1870er-Jahren verknüpft sich die politische Bedeutung des Wortes mit dem Uhrenhandwerk, als das Uhrmacherstädtchen Saint Imier im Schweizer Jura zum Zentrum des Anarchismus wird. Für den russischen Geographen Pjotr Alexejewitsch Kropotkin war die Begegnung mit der „Uhrmacherszene“ des Jura prägend. Im eher horizontal sich ausbreitenden Erzählraum von Schäublins Film kreuzen sich die Wege des späteren Theoretikers des Anarchismus immer wieder mit denen der Arbeiterin Josephine Gräbli, die sich der revolutionären Bewegung der örtlichen Uhrmacher anschließt.
„Sind wir hier im Bild?“, fragt in der ersten Szene eine Frau im historischen Kostüm. Für einen Moment glaubt man sich außerhalb des Erzählrahmens, in einer Art Making-of. Erst dann gibt sich das Objekt, an dem zwei Männer hantieren, als Fotokamera zu erkennen. Auch später werden Figuren immer wieder aus dem (Film-)Bild gescheucht, weil gerade dringend fotografiert werden muss. Etwa für den Katalog des Uhrenfabriken Roulet.
Radikale Nicht-Verortung der Bilder
Mit seinen weiten, statischen Einstellungen, die mit extremen Close-Ups montiert werden, schließt Cyril Schäublin an die Anfänge des Kinos und die elementaren Kategorien des Filmemachens an: die Einstellung, die Aufnahme, der Umgang mit der filmischen Zeit. Anderseits erfährt das Bild eine völlig neue Verortung. Oder anders gesagt: Auf radikale Weise wird es gerade eben nicht verortet. Anstelle von Totalen macht Schäublin eher so etwas wie De-Establishing-Shots, die durch eine Vielzahl von Handlungsräumen, Bild- und Tonschichten, Bewegungen und Gegenbewegungen aktiviert werden.
Schäublins Politik der Dezentralisierung, die er gemeinsam mit dem Bildgestalter Silvan Hillmann bereits in seinem Debütfilm „Dene wos guet geit“ (2017) etablierte, geht unmittelbar aus dem thematischen Geflecht hervor. „Unrueh“ kreist um die Verbindung von Uhrenarbeit und Anarchismus (als Dezentralisierung von Macht) und im erweiterten Sinn um die Verbindung von Uhrenarbeit, Anarchismus, Fotografie und globaler Kommunikation (durch die Einführung des Telegrafen). Einmal tauschen Fabrikarbeiterinnen in einer Pause die neuesten Bilder von Anarchist:innen aus; Fotografien von Louise Michel, August Reinsdorf und anderen sind begehrte Objekte.
Das dialektische Prinzip
Schäublins Film ist aber nicht nur in den weiten Einstellungen durch Bewegungen und Gegenbewegungen organisiert; das dialektische Prinzip beherrscht auch die sozialen Sphären. In der Uhrenfabrik des Nationalrats Roulet, in dem Gräbli arbeitet, verkündet ein leitender Mitarbeiter vor den Arbeiterinnen die aktuellen Verkaufszahlen und mahnt zu einem erhöhten Arbeitstempo, während in der anarchistischen Uhrenmanufaktur über einen Vorschlag abgestimmt wird, in Form von Lohnabgaben Streikende in Übersee zu unterstützen.
„Unrueh“ richtet den Blick auf ein Element, das für das filmische Medium wesentlich ist, aber als politischer Faktor bisher kaum sichtbar gemacht wurde: die Zeit. In der proto-tayloristischen Gesellschaft, die der Film beschreibt, ist sie tatsächlich eine noch bewegliche Größe. Neben der Fabrikzeit existieren drei weitere Zeiten: die Kirchenzeit, die Gemeindezeit, die Telegrafenzeit. Die Einspeisung der Zahlen in den kapitalistischen Kreislauf steht gerade am Anfang.
Die Zeit wird vermessen
Parallel zur immer umfassenderen Kartografierung der Landschaft – Kropotkin führt der Auftrag zur Erstellung einer neuen Karte ins Tal – wird auch die Zeit vermessen. Der Vorarbeiter steht mit der Stoppuhr hinter den Arbeiterinnen, auch Arbeitswege werden berechnet und optimiert. In seltenen Momenten lässt sich dies aber auch zum eigenen Vorteil nutzen. Als Josephine Gräbli einmal aufgefordert wird, mit ihrer Kiste voller „Unruhen“ einen Umweg in die Werkstatt zu gehen, weil sie sonst ins Bild der Fotografen laufen würde, weist sie die Männer auf den Verlust von vier Minuten hin. Das Argument überzeugt.