„Und morgen seid ihr tot“ gereift die Geschichte von Daniela Widmer und David Och auf, die im Sommer 2011 auf einer Asienreise im pakistanischen Belutschistan von einem bewaffneten Kommando entführt wurden. Nach einigen Tagen in einem Versteck schaffte man sie nach Waziristan und übergab sie den Taliban. In den folgenden Monaten wurde mit den Schweizer Behörden intensiv über die Freilassung von Widmer und Och verhandelt.
Zur gleichen Zeit spitzte sich nach der Ermordung von Osama Bin Laden die Lage in der Region zu, was sich auch auf die Situation der gefangenen Schweizer auswirkte. Nachdem man sie zunächst nach Miranshah geschafft hatte, in die Hauptstadt der Region, wurden sie später auf einen abgelegenen Hof in den Bergen verlegt, von wo ihnen im März 2012 die Flucht gelang.
Über die Verhandlungen mit den Taliban drangen damals Details an die Öffentlichkeit. Diese betrafen weniger die Entführung als vielmehr die Forderungen: die Freilassung inhaftierter Taliban-Kämpfer und das Lösegeld. Als Widmer und Och wieder in der Schweiz eintrafen, überschlugen sich die Schlagzeilen. Man wollte oder konnte nicht glauben, dass den beiden aus eigener Kraft die Flucht gelungen war, von der doch behauptet wurde, dass sie unmöglich sei.
Jeder Film ein anderes Genre
Er werde nie einen Film drehen, der seinen vorherigen gleiche, hatte Michael Steiner vor Jahren behauptet und seine Aussage bislang noch immer eingehalten. Vom 1996 erschienenen Low-Budget-Film „Die Nacht der Gaukler“ über den Fernsehfilm „Spital in Angst“, die Lausbubengeschichte „Mein Name ist Eugen“, den Wirtschaftsthriller „Grounding – Die letzten Tage der Swissair“, die Alpensaga „Sennentuntschi“ und die Horrorkomödie „Das Missen Massaker“ bis zur 2018er Romanze „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ bediente jeder Film von Steiner ein je anderes Genre.
„Und morgen seid ihr tot“ nimmt in dieser Reihe den Platz eines Abenteuerfilms ein, der zugleich ein bitteres Drama ist. Es ist Steiners zurückhaltendster und intimster Film. Denn anders, als es sich anbieten würde, dröselt Steiner den Entführungsfall nicht aus multiperspektivischer Außensicht auf, sondern erzählt weitgehend aus der Sicht von Widmer und Och, zum Teil auch aus der ihrer Eltern. Die kriegerischen Ereignisse und die Verhandlungen um ihre Freilassung bleiben weitgehend im Hintergrund; der Medienrummel in der Schweiz wird nur am Schluss kurz angespielt.
Der Fall Widmer und Och hat Steiner von Anfang an interessiert. Vor allem wollte er erfahren, was hinter dem steckt, was die Medien kolportierten, was also tatsächlich geschehen ist. Dem Drehbuch von Urs Bühler und Daniel Young liegen ausgiebige Recherchen und Gespräche mit Beteiligten zugrunde, vor allem auch Ochs und Widmers 2013 veröffentlichter Erlebnisbericht, von dem der Film seinen Titel hat.
Eine Mischung aus Zufall und Pech
Auf der Leinwand sieht man, wie Sven Schelker und Morgane Ferru als verliebtes Paar in einem Campingbus auf den Spuren von Marco Polo Richtung Asien aufbrechen. In wenigen Szenen werden die ersten vergnüglichen Monate dieser Reise erzählt. Die eigentliche Handlung setzt erst ein, als Widmer und Och auf der Rückfahrt einer französischen Familie begegnen, die von der Schönheit des Loralai-Distrikts in Pakistan erzählt. Das führt zu einer spontanen Änderung der Reiseroute. Es ist eine kleine Unbedachtheit, dass sie auf den wenigen Kilometern, die sie zwischen zwei Distrikten ohne Polizeieskorte zurücklegen, kurz anhalten und aussteigen. Eine Mischung aus Zufall und Pech führt dazu, dass sie von einer Gruppe Gotteskrieger überfallen und entführt werden, die sie auf einem strapaziösen Fußmarsch in die Berge schaffen.
Als die Männer sich bei einem Zwischenhalt dem Gebet widmen und ihre Gewehre unbeaufsichtigt stehen lassen, wittert Och seine Chance. Doch Widmer reagiert entsetzt. Immer wieder fokussiert die Inszenierung auf die Beziehung der Protagonisten und ihre unterschiedliche Art, mit der Situation umzugehen.
Nach einigen Tagen werden die Gefangenen rund 500 Kilometer weiter in den Norden nach Miranshah gebracht, nahe der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Stadt gilt als Hochburg der Taliban und wird in den Jahren 2010-2012 immer wieder von Drohnen angegriffen; auch Gefechte sind an der Tagesordnung.
Widmer und Och werden den Taliban übergeben und verbringen einige Wochen streng bewacht in einem kargen Hinterhofzimmer. Nach einem besonders heftigen Angriff schafft man sie auf den Hof jenes Mannes, der ihnen bisher das Essen brachte. Auch hier, mitten in den Bergen, werden sie bewacht. Doch hier leben auch Frauen und Kinder, es gibt Tiere und einen Alltag. Während sich Och, der oft mit hilflosem Zorn reagiert, zunehmend abschottet, lernt Widmer die Sprache ihrer Bewacher und versucht, Freundschaft mit ihnen zu schließen.
Halt in der Krise
Der Film wurde im indischen Udaipur gedreht; da man die Dreharbeiten im Frühjahr 2020 Corona-bedingt einstellen musste, hängte man im Dezember 2020 einige Tage in Südspanien an; der Ortswechsel ist im Film nicht auszumachen. Die Kamera führte Filipp Zumbrunn, der mit Steiner schon bei „Grounding“ zusammenarbeitete.
Es gibt in „Und morgen seid ihr tot“ heiße Action, intensive Spannung, dramatische Szenen; vor allem aber endloses Warten. Sven Schelker und Morgane Ferru sind professionell und ergänzen sich bestens als Paar, das sich gegenseitig durch die Krise hilft, zugleich aber auch abhandenkommt. Steiner beherrscht die großen Szenen ebenso wie die intim-kleinen; manche Episoden, etwa mit den Behörden oder den Eltern, fallen etwas klischeehaft aus, doch das schadet dem Film nicht.
Unter dem Strich ist „Und morgen seid ihr tot“ ein sehr solider, gradlinig erzählter Film, der sein Thema breit auffächert und die Motivationen (und Gefühle) aller Beteiligten so plastisch vor Augen führt, dass man sie weitgehend nachvollziehen kann.