Schon im Kindesalter wirkt Benedettas Entschlossenheit ein wenig hochmütig. Als das Mädchen von seinen Eltern Anfang des 17. Jahrhunderts in ein toskanisches Nonnenkloster gebracht wird, stellt sich der Familie eine Räuberbande entgegen. Selbstbewusst setzt Benedetta zu einer Belehrung an, bei der sich schließlich ein Vogel genau im richtigen Moment über einem der Diebe entleert. Ob es sich dabei um ein göttliches Zeichen oder nur um Zufall handelt, ist eine Frage, die man sich in „Benedetta“ immer wieder stellt. Ziemlich klar ist hingegen, dass es der Titelheldin hier zum ersten, aber keineswegs letzten Mal gelingt, in einer ausweglosen Situation ihren Willen durchzusetzen.
Kurz darauf kommt es zu einem weiteren bedeutsamen Ereignis für den Verlauf des Films von Paul Verhoeven, der frei auf einem Sachbuch von Judith C. Brown über die Nonne Benedetta Carlini basiert. Kaum ist das Mädchen im Kloster angekommen, muss es ein kratzendes Gewand tragen. Das Unbehagen sei Absicht, flüstert ihr eine Nonne zu: „Dein Körper ist dein Feind.“ Kurz darauf fällt eine Marienstatue mit entblößter Brust auf das betende Mädchen; instinktiv beginnt Benedetta am Nippel der Skulptur zu saugen. Selbst der ritualisierte Klosteralltag kann die aufkeimende Lust der Protagonistin nicht zähmen.
Eine echte Braut Christi
Zunächst findet die mittlerweile erwachsene Heldin (Virginie Efira) einen Weg, enthaltsames Leben und fleischliches Begehren zu vereinen. Weil die Eltern des Mädchens eine Mitgift an die knallhart verhandelnde Äbtissin Felicita (Charlotte Rampling) zahlen müssen, wirkt es auch konsequent, dass Benedetta sich als Braut Jesu fühlt. Wie in einem reißerischen Groschenroman spinnt sie sich Fantasien zusammen, in denen ihr der Heiland als verführerischer Hirte begegnet oder sie als schwertschwingender Ritter vor einer Vergewaltigung rettet. Immer mehr scheint die junge Frau von diesen Visionen beherrscht zu werden. Auf ihr Umfeld wirkt sie dadurch entrückt und überheblich.
Dann dringt Bartolomea (Daphne Patakia) als irdische Versuchung in ihr Leben. Das sinnliche Bauernmädchen mit den vollen Lippen beweist nicht nur auf der Toilette und beim Umziehen ein entwaffnend unbekümmertes Verhältnis zum eigenen Körper, sondern macht Benedetta auch deutliche Avancen. Die Geschehnisse eskalieren daraufhin in zwei verschiedene Richtungen. Einerseits leben die beiden Frauen ihre Beziehung immer hemmungsloser aus, andererseits wird Benedetta scheinbar zur Heiligen. Erst bekommt sie Stigmata, dann mahnt sie ihr Umfeld mit dämonisch dunkler Stimme vor blasphemischen Umtrieben. Nicht jeder im Kloster nimmt ihr diese Darbietung ab.
Frivolität versus Frömmigkeit
Das Geheimnis des Films liegt im ungelösten Widerspruch zwischen Frivolität und Frömmigkeit, der sich unter anderem in einer zum Dildo umfunktionierten Marienfigur verdichtet. Obwohl Verhoevens ebenso freizügiges wie gewalttätiges Kino mitunter provokant und brutal ist, hält es nicht viel von Eindeutigem. Schon das tolle Schauspielensemble versammelt eine Reihe äußerst ambivalenter Figuren, die nicht um die Sympathie des Publikums buhlen müssen. In der moralisch instabilen Welt des Films bleiben klare Täter- und Opferzuschreibungen ohnehin flüchtig und ungenau.
Wenn sich „Benedetta“ nicht gerade dem rasenden Eifer seiner Titelheldin hingibt, schweift er zu Nebenfiguren wie der schon bald zur Schwester degradierten Felicita ab oder tritt zurück, um das Milieu genauer ins Visier zu nehmen. Ohne das Göttliche ganz zu leugnen oder in plumpe Kirchenkritik zu verfallen, erzählt Verhoeven, wie der Klerus von Machtspielen und Heuchelei bestimmt ist. Ein Wunder ist für die Kirche hier in erster Linie interessant, weil es finanziell profitabel ist.
Ausgerechnet der aus seinem eigenen barock lüsternen Lebensstil keinen Hehl machende Nuntius (Lambert Wilson) soll aus Florenz anreisen, um Benedetta als Scharlatanin zu entlarven. In der hässlich gezeichneten, auf Missgunst und Ungleichheit basierenden Welt wird über ähnliche „Vergehen“ letztlich sehr unterschiedlich gerichtet. Der eine wird zur moralischen Instanz, die andere zum Sündenbock.
Die Regeln eines verdorbenen Systems
Mit ihrem manipulativen Geschick steht die Nonne Benedetta den Protagonistinnen aus früheren Verhoeven-Filmen in nichts nach. So wie die unter Mordverdacht stehende Bestsellerautorin Catherine Tramell aus „Basic Instinct“ oder die naive, aber umso ehrgeizigere Tänzerin Nomi aus „Showgirls“ lernt auch Benedetta perfekt die Regeln eines Systems zu spielen, das es nicht immer gut mit ihr meint.
Im Liebestaumel oder im Angesicht des Todes offenbart sie zwar eine einnehmende Verwundbarkeit, doch schon im nächsten Augenblick verwandelt sie sich wieder in eine machtgierige und kaltblütige Femme fatale, die den Glauben der Bevölkerung ebenso auszunutzen weiß wie die Hysterie anlässlich der im Umland wütenden Pest. Benedetta ist weder Märtyrerin noch emanzipatorische Freiheitskämpferin, sondern bleibt undurchsichtig und unberechenbar. Dass ihre ungeheuerlichen Taten während ihrer abenteuerlichen Karriere als Heilige häufig Racheaktionen gegen ein feindlich gesinntes Umfeld sind, führt dazu, dass „Benedetta“ oft dann am meisten Spaß macht, wenn seine Protagonistin besonders anmaßend und boshaft ist.