Biopic | Deutschland/Italien/Belgien/Schweden 2024 | 103 Minuten

Regie: Yasemin Samdereli

Die somalische Sprinterin Samia Yusuf Omar (1991-2012), die beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, vor Malta ums Leben kam, war seit ihrer Kindheit vom olympischen Traum beseelt. Ohne Rührseligkeit, aber mit einer mitreißenden Lust an Bewegung erzählt das Drama vom Weg der jungen Frau aus einem Armenviertel von Mogadischu über die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Peking 2008 bis zu ihrem Tod am 2. April 2012 vor der Küste Maltas, als ihr überfülltes Flüchtlingsboot kenterte. Mit großer Selbstverständlichkeit folgt der Film der Dramaturgie einer Heldinnengeschichte, während die politischen Umbrüche in Somalia als bedrohliches Rauschen überhandnehmen und die Protagonistin zur Flucht aus ihrer Heimat verleiten. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Italien/Belgien/Schweden
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Neue Bioskop Film
Regie
Yasemin Samdereli
Buch
Nesrin Samdereli · Yasemin Samdereli · Giuseppe Catozzella
Kamera
Florian Berutti
Musik
Rodrigo D'Erasmo
Schnitt
Mechthild Barth · Sebastian Bonde
Darsteller
Ilham Mohamed Osman (Samia) · Elmi Rashid Elmi (Ali) · Riyan Roble (junge Samia) · Zakaria Mohammed (junger Ali) · Fatah Ghedi (Yusuf)
Länge
103 Minuten
Kinostart
19.09.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Biopic | Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Drama um die junge somalische Sportlerin Samira Yusuf Omar (1991-2012) und ihren Traum von Olympia.

Diskussion

Sie sei „der nächste Mo Farah“, schreibt ihr mal jemand, der es gut mit ihr meint und der fest an ihr Talent als Läuferin glaubt. Samia Yusuf Omar glaubt sowieso an sich. Die junge Frau aus einem ärmlichen Viertel der somalischen Hauptstadt Mogadischu schafft es sogar, sich als Sprinterin für Olympia zu qualifizieren, obwohl es nach der Machtergreifung der Islamisten fast unmöglich geworden ist, zu trainieren. Der obligate Schleier stört, und das soll auch so sein, denn Sport ist den Frauen ohnehin nicht mehr gestattet. Jubeln, Singen oder Musikhören ist verboten. Deshalb läuft Samia nachts, heimlich, und freut sich leise.

Träume sind alles, was wir haben

Bei den Vorbereitungen für die Olympischen Spiele in Peking 2008 rennen sie und ihr Idol Mo Farah sogar einmal fast ineinander. Es ist nur eine kleine Unachtsamkeit; ihre und seine Schulter rempeln aneinander. So nah werden sich diese beiden Lebenswege nie wieder sein. Vier Jahre später wird der berühmte somalische Langstreckenläufer mit britischer Staatsbürgerschaft in London Doppel-Olympiasieger über 5000 und 10.000 Meter. Die junge Frau aber, die davon träumte, 2012 ebenfalls anzutreten, ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Sie ertrank beim Versuch, Europa zu erreichen, um weiter an ihrem Traum von Olympia zu arbeiten. Die 21-Jährige starb am 2. April 2012 im Mittelmeer, wie Tausende andere zuvor und danach.

Über Samias kurzes Leben sind schon Bücher geschrieben worden: die Graphic Novel „Der Traum von Olympia“ von Reinhard Kleist und der Roman „Mit Träumen im Herzen“ des italienischen Journalisten Giuseppe Catozzella. Träume, so formuliert es Samias fürsorglicher Vater Yusuf (Fatah Ghedi), seien nun einmal „alles, was wir haben“. Im Film ist damit nicht nur der Traum vom besseren Leben gemeint. Träume, zumal in repressiven Systemen ohne Aussicht auf Veränderung, lassen das Leben erträglicher werden, aber manchmal auch den Augenblick des Todes.

Sprengstoff, Angst und Terror

Vor allem die Szenen aus Samias Kindheit sprühen vor Rasanz und Bewegungsfreude. Die Kamera von Florian Berutti spürt der Freundschaft zwischen Samia (Riyan Roble) und dem Nachbarsjungen Ali (Zakaria Mohammed) nach, der vom Konkurrenten zu ihrem Trainer wird. Die beiden Kinderdarsteller bringen Tiefe und Komplexität in diese Beziehung und loten schnörkellos aus, was Verlieren, Gewinnen, Verrat und Loyalität bedeuten. Sie zerstreiten und versöhnen sich so glaubhaft, dass es fast dokumentarisch wirkt.

Die Kinder besitzen offensichtlich noch genügend Kraft und geistige Flexibilität, um Geschlechterrollen zu reflektieren. Im Unterschied zu den bald alle Leichtigkeit zerstörenden Milizen, die teils selbst fast noch Kinder sind wie Samia und Ali. Für die Radikalen ist die Welt einfach; das Böse ist leicht zu identifizieren, und die Mittel zu dessen Bekämpfung sind jederzeit zur Hand: Sprengstoff, Angst und Terror.

Abgesehen von dem knappen dokumentarischen Archivmaterial zu Beginn des Films und noch einmal nach einem Bombenattentat werden die politischen Hintergründe dieses Umbruchs in Somalia nicht weiter erklärt. In seiner aus Kinderperspektive unerklärlichen Brutalität hackt sich das Grauen als etwas Fremdes in den städtischen Mikrokosmos. Die ständige Bedrohung wird dadurch umso effektiver zum bizarren Hintergrundrauschen und frisst sich in die potenzielle Story von Glück und Erfolg.

Du kannst es schaffen

Regisseurin Yasemin Şamdereli schrieb das Drehbuch zusammen mit Giuseppe Catozzella und ihrer Schwester Nesrin. Mit „Almanya – Willkommen in Deutschland“ haben die beiden ihr Gespür für komische Reibungen zwischen türkisch-deutschen Kulturen schon unter Beweis gestellt. Das Schicksal von Samia überwältigt schon als bloße Nachricht. Doch gerade weil der Film fast bis zuletzt die westliche Konvention „Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst“ mit einer fast naiven Selbstverständlichkeit aufruft, so als gelte dies tatsächlich für alle Menschen, und weil die beiden Samia-Darstellerinnen Riyan Roble (als Kind) und llham Mohamed Osman (als junge Frau) einen von jugendlicher Klugheit getragenen, nahezu ungebrochenen Optimismus an den Tag legen, trifft das längst bekannte Ende umso mehr.

„Samia“ wählt im Umgang mit dem Motiv des dem Untergang geweihten Flüchtlingsbootes also eine völlig andere Strategie als etwa Philip Scheffner. Der zerlegt in seinem minimalistischen Filmexperiment „Havarie“ ein auf einem Kreuzfahrtschiff aufgenommenen Video quälend analytisch in Einzelbilder und stellt damit die Wahrnehmung auf die Probe. Und Wolfgang Fischer blickt in seinem hochvirtuosen Drama „Styx“ aus der Perspektive einer Hobbyseglerin auf den Gewissenskonflikt einer Einzelnen, die helfen könnte. Doch „Samia“ ist gerade in seiner scheinbar weniger raffinierten Form ein Film, den es gegen das abgestumpfte Weiterscrollen braucht. Zwischen Nachrichten über tote Migrantinnen und Eilmeldungen über den Gewinn von Medaillen hilft er jenes brutale Meer der Ignoranz zu erkennen, in dem nicht nur Samias Traum untergegangen ist.

Kommentar verfassen

Kommentieren