Die schlohweißen Haare umschließen den Kopf wie einen Kranz und verweisen nicht nur auf das Alter, sondern auch auf das Leid, das dieser Frau widerfahren ist. Dazu passt auch das unbewegte Gesicht, das für ein Lächeln nicht mehr zu taugen scheint. Haleh (Jasmin Tabatabai) ist 70 Jahre alt und arbeitet als Psychologin in den Niederlanden. Im Jahr 1981, nach dem Sturz des Schahs, hat sie den Iran verlassen müssen. In gelegentlichen Rückblenden erfährt man, was damals vor fast 40 Jahren geschehen ist. Halehs Tochter Mitra wurde, vermutlich verraten von einer Freundin, von der Geheimpolizei verhaftet und später hingerichtet. Halehs Bruder Mohsen kam ins Gefängnis und verließ es als gebrochener Mann, bevor er nach Deutschland ausreisen konnte.
Ein tückischer Verdacht
Nun wird die alte Frau von einer Gruppe Exil-Iraner, die sich die „Organisation“ nennen, informiert, dass die Verräterin von damals vielleicht in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft lebt. Mohsen reist extra aus Deutschland an und ist sich sicher: das kann nur Mitras damalige Freundin Leyla sein. Unter einem Vorwand knüpft Haleh Kontakt zu der verdächtigen Frau, die sich Sare nennt, und hilft ihr, sich im fremden Alltag zurechtzufinden. Auch sie hat eine Tochter, die aufgeweckte und freundliche Nilu. Plötzlich weiß Haleh nicht mehr, was sie tun soll. Die örtliche Polizei einschalten? Die „Organisation“ informieren? Ist diese Frau wirklich Leyla? Oder wünscht Haleh sich, dass sie es wäre? In ihrer Ratlosigkeit trifft sie eine folgenschwere Entscheidung.
„Mitra“ fußt auf einer wahren Geschichte, die die Familie des iranischstämmigen Autors und Regisseurs Kaweh Modiri so erlebt hat. Es geht um Schuld und Sühne, um Rache und Vergebung, aber auch um das Leid, das der Verlust eines geliebten Menschen und der Heimat hervorruft.
Der Reiz von „Mitra“ liegt in der unterschiedlichen Bildgestaltung, die die beiden Erzählebenen kennzeichnet. Während das Teheran des Jahres 1981 mit lichtdurchfluteten gelben Bildern als lebhafte und lebenswerte Stadt erscheint, die aber auch voller Gefahren und Bedrohungen steckt, spiegeln die Niederlande der Gegenwart mit den blassgrauen Farben, dem häufigen Regen und den leeren Straßen den Gemütszustand Halehs wider. Sie ist trotz ihres materiellen Wohlstands, des beruflichen Erfolgs und der Sicherheit im Exil eine gebrochene Frau, ebenso wie ihr Bruder, der mit wirrem Haar und vorgebeugtem Gang seine Haft noch immer zu spüren scheint. Was nützt ein neues Leben im Exil, wenn Mohsen nicht einmal das Haus verlassen kann und sich auch von den hier lebenden Landsleuten abkapselt?
Die Rache ändert nichts
Der Wunsch nach Rache scheint unter diesen Umständen verständlich. Doch zu den wichtigen Erkenntnissen des Drehbuchs zählt, dass eine derartige Lösung nichts ändert. Sie bringt weder die ermordete Tochter noch die verlorene Heimat zurück. Darum ist es auch nicht wichtig, ob Sare wirklich Leyla ist oder nicht, das macht auch der lakonische Schluss deutlich.
Jasmin Tabatabai verkörpert diesen Zwiespalt einfühlsam und perfekt, mit wenigen Gesten. Vielleicht ist sie mit ihren 54 Jahren für die Darstellung der alten Haleh noch zu jung. Dennoch wird spürbar, wie hier eine Frau von der Vergangenheit nicht loskommt und ihre innere Leere nicht verdrängen kann. Tabatabai lässt auch persönliche Erfahrungen in ihre Darstellung einfließen. Sie wurde 1967 als Tochter einer Deutschen und eines Iraners in Teheran geboren. Mit ihrer Mutter flüchtete sie als Zwölfjährige 1979 vor der Revolution Khomeinis nach Bayern. Das verleiht ihrer Rolle Authentizität und Glaubwürdigkeit.