Spätestens wenn der türkische Autokrat Erdogan wie ein zurechnungsfähiger Demokrat wirkt, ist klar, dass etwas im Argen liegen muss. Das Unbehagen, das diese Erkenntnis mit sich bringt, wächst beim Sehen des Dokumentarfilms „The Dissident“ kontinuierlich. Regisseur Bryan Fogel spürt darin dem Mord an dem saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi nach. Der damals bereits im Exil lebende regimekritische Journalist betrat am 2. Oktober 2018 das saudi-arabische Generalkonsulat in Istanbul, um Heiratspapiere abzuholen. Seine Verlobte, die türkische Journalistin Hatice Cengiz, wartete stundenlang vergeblich vor dem Gebäude auf ihn – er kam nicht mehr heraus. Die Leiche wurde nie gefunden, doch gilt es als gesichert, dass Khashoggi auf Anweisung der saudi-arabischen Regierung in dem Konsulat ermordet und anschließend verbrannt wurde.
Minutiöse Rekonstruktion des Falls
Obwohl der Film einen Fall aufarbeitet, dessen Spannungsbogen vermeintlich vorhersehbar ist, gelingt es der Inszenierung, „The Dissident“ zu einem regelrechten Doku-Thriller zu machen. Dafür muss Fogel nicht mehr so investigativ vorgehen wie in seinem Film „Ikarus“ (2017), als er einen der größten Doping-Skandale des Rennradsports aufdeckte und einen Sportarzt zum Whistleblower machte. „The Dissident“ kommt vielmehr ganz unaufgeregt daher, ist jedoch ein minutiös recherchierter Dokumentarfilm, der alle Facetten des Falls auffächert und deren Implikationen für Khashoggis Mitstreiter verdeutlicht.
Fogel hat dafür engmaschiges Archivmaterial zusammengetragen, um die Berichterstattung über den Fall nachzuzeichnen und die Beweislage zu rekonstruieren. Zudem hat er eine Vielzahl an Interviews mit Khashoggis engsten Vertrauten geführt. Ein Gespräch mit dessen Kollegen Omar Abdulaziz strukturiert den Film. Der junge saudi-arabische Journalist berichtet aus dem kanadischen Exil von der Vorbildfunktion, die Khashoggi für ihn und viele seiner Freunde hatte und wie der Mord ihn in seinem Entschluss bestärkt hat, über den kontinuierlichen Machtmissbrauch der saudi-arabischen Regierung zu berichten.
Die Stärke des Films: Kontextualisierung
Dabei geraten vor allem die autokratischen Methoden des Kronprinzen Mohammed bin Salman al-Saud in den Fokus. Der stellvertretende Premierminister ist zugleich Verteidigungsminister und auch für die digitale Abwehr des Landes zuständig. Mithilfe von Abdulaziz’ Schilderungen deckt Fogel das digitale Bollwerk auf, das Saudi-Arabien mithilfe einer immensen Armee von Twitter-Trollen aufgebaut hat. Diese definieren Regimekritik in Fake News um und machen damit Kritiker mundtot, indem sie unliebsame Tweets mit gezielt verbreiteten Fake News und Verleumdungen schlichtweg online begraben.
Die Stärke des Films ist die politische wie emotionale Kontextualisierung, denn Fogel deckt die internationale Vernetzung der saudi-arabischen Regierung auf. Er macht deutlich, welche übergreifend geopolitische und ökonomische Bedeutung die digitale Armee der Saudis hat. Absurd zivilisiert wirken im Gegenzug die türkischen Behörden und sogar Erdogan, die Unterlagen zur Aufklärung der Tat bereitstellten, darunter eine Tonbandaufnahme des Mordes. Mitglieder eines Ermittlungsausschusses unter Leitung der Vereinten Nationen rekapitulieren die schauerliche Hörerfahrung. Allein die Erzählungen lösen Kopfkino von der schlimmsten Sorte aus, das jeden noch so blutigen Splatterfilm verblassen lässt.
Ein Gegengewicht zu den Fake News
Die Naivität, die Donald Trumps Vertrauen in die Unschuldsbeteuerungen der saudi-arabischen Regierung ausstrahlt, bekommt einen unguten Beigeschmack, ebenso das Kalkül der Geschäftsbeziehungen, die Amazon-Gründer Jeff Bezos mit bin Salman über Jahre hinweg pflegte und erst nach Berichten über den Mord abbrach.
Fogels Detailtreue bedingt eine große Unmittelbarkeit von „The Dissident“, denn auf merkwürdige Weise spiegelt seine Beharrlichkeit die minutiöse Planung und Ausführung des Mordkomplottes wider und macht überdies deutlich, von welch unschätzbarem Wert eine unabhängige Presse für ein demokratisches Miteinander ist. Fogel verfällt nicht in pathetisches Dozieren, sondern formt mit solidem Handwerk ein Gegengewicht zur zersetzenden Wirkung von Fake News und Vertuschung.