Der Zorn der Bestien - Jallikattu
Action | Indien 2019 | 95 Minuten
Regie: Lijo Jose Pellissery
Filmdaten
- Originaltitel
- JALLIKATTU
- Produktionsland
- Indien
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- Chembosky Motion Pictures/Kasargod Aadmi Pict./Lijo Jose Pellissery Movie House/Opus Penta/XYZ Films
- Regie
- Lijo Jose Pellissery
- Buch
- Hareesh S. · R. Jayakumar
- Kamera
- Girish Gangadharan
- Musik
- Prashant Pillai
- Schnitt
- Deepu Joseph
- Darsteller
- Antony Varghese (Antony) · Chemban Vinod Jose (Kalan Varkey) · Sabumon Abdusamad (Kuttachan) · Jaffer Idukki (Kuriachan) · Santhy Balachandran (Sophie)
- Länge
- 95 Minuten
- Kinostart
- 23.09.2021
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Action | Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Origineller Hybride aus Actionfilm und filmischer Sinfonie, der anhand der Jagd nach einem entlaufenen Bullen von den Abgründen der Zivilisation handelt.
Menschen erwachen, gemeinsam, wie auf ein geheimes Kommando hin, und etwas erwacht in ihnen. Etwas Altes, das wohl niemals wirklich stirbt. Auf dem Soundtrack ist das rhythmische Ticken einer Uhr zu hören, jeder neue Sekundenschlag lässt Augenlider zittern und müde Pupillen auf das Licht des neuen Tages reagieren. Noch in ihren Betten, bevor sie ihr mühseliges Tagwerk antreten, ahnen die Bewohner einer kleinen indischen Stadt, irgendwo in der Nähe der Malabarküste, dass die nächsten Tage und Stunden nichts Gutes für sie bereithalten.
So beginnt „Jallikattu - Zorn der Bestien“ von Lijo Jose Pellissery. Ein Actionfilm, der sich vor allem für Menschenmassen und ihre Bewegung interessiert, für das kollektive Erleben und Handeln einer Gemeinschaft. Eine Stadt-Sinfonie auf dem Land, ein Horrorfilm über die Nähe zwischen Mensch und Bestie.
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
Als „Jallikattu“ ist in Indien ein Wettbewerb bekannt, bei dem junge Männer versuchen, einen Bullen niederzuringen, oft als Teil von Erntedankfesten. Einer dieser gesellschaftlichen Atavismen, die etwas schräg in die Gegenwart ragen. In „Zorn der Bestien“ geht dem Ritual die Intention verloren. Dem Metzger Kalan Varkey (Chemban Vinod Jose) und seinem Assistenten Antony (Antony Varghese) entkommt ein Büffel. Sofort ist das Dorf in heller Aufregung. Das Fleisch des Tieres war unter anderem für eine Verlobungsfeier gedacht. Das Tier verletzt Passanten, zertrampelt die Ernte und löst sogar ein Feuer aus. Mehr und mehr Männer strömen zusammen, sogar die Chaoten aus dem nahegelegenen Dorf Poomala. Doch selbst der berüchtigte Wilderer Kuttachan (Sabumon Abdusamad) wirkt bald hilflos. Die Situation eskaliert immer weiter, die Emotionen kochen hoch. Latente Animositäten brechen sich Bahnen, und bald wird nicht nur das Tier gejagt.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Dorfbewohner diesen Bullen gar nicht gebraucht hätten, um sich in ein wirres Durcheinander aus Körpern, Speeren und Fackeln zu verwandeln. Oder umgekehrt: Manchmal wirkt es, als hätte ihr Zorn selbst die tobende Kreatur heraufbeschworen, um der Unordnung eine Gestalt zu geben. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.
Die Kamera mischt sich unter die Jäger
„Jallikattu“ präsentiert auf mehr als 90 Minuten eine einzige lange Verfolgungsjagd. Natürlich gibt es kurze Unterbrechungen im Ereignisstrom, Momente der Deliberation oder sogar der Kontemplation. Kurze Rückblicke und kurz ins Zentrum gerückte Nebenhandlungen. Kriselnde Beziehungen, eine Braut auf der Flucht, ein Streit unter Freunden, Alltag. Doch im Wesentlichen sieht man zunehmend zornigen Männern dabei zu, wie sie einen Bullen verfolgen. (Frauen tauchen nur in unscheinbaren oder sogar ärgerlichen Nebenrollen auf.) Sie stürmen durch ihr Dorf, durch Plantagen und den Urwald, nur selten allein, meist in zunehmen größeren Gruppen.
Die Kamera von Girish Gangadharan sieht dabei kaum mehr als die Menschen selbst; auf der Suche nach Immersion mischt sie sich in langen Einstellungen unter die Jäger. Sie wackelt und schaukelt ein wenig; trotzdem halten sich Ordnung und Konfusion die Waage. Hingebungsvoll vollzieht sie jede menschliche Regung nach. Ein Mann geht in die Knie, die Kamera sinkt mit ihm zu Boden. Er steht wieder auf, und sie schnellt empor. Wenn der Büffel wieder einmal überraschend auftaucht, etwa weil ihn das Licht einer Taschenlampe aus der Dunkelheit schält, scheint die Kamera sich oft an ihn zu hängen. Nicht, um die subjektive Perspektive des Bullen einzunehmen, sondern wie als Ausdruck der kollektiven Obsession. Meist bleibt die Kreatur jedoch im Off wie Spielbergs weißer Hai – sie richtet ja so schon genug Angst und Schrecken an.
Ornament der Masse
Doch der Film kennt mehr als diesen einen Rhythmus. Die Montage von aufgeschlagenen Augen, die ihn einleitet, findet immer wieder Echos. In schneller Abfolge präsentierte kleine Details formen sich zu einem großen Mosaik. Etwa von dem winzigen Getier, das sich durch Erdreich und Büsche gräbt, der Mikrokosmos von Destruenten unter der Schwelle menschlicher Wahrnehmung. Oder vom Dorfleben: Hier ein Fahrradreifen im Schlamm, Hände am Lenkrad, dann ein Beil, das auf Fleisch schlägt. Cut, Schnitt, Cut. Die Mechanismen der Zivilisation, in ihren Verwertungsketten den Würmen und Maden nicht unähnlich.
„Jallikattu - Zorn der Bestien“ ist kein subtiler Film. In der versammelten Masse ist der Mensch ein Tier, bestenfalls ein Höhlenmensch, das begreift man schnell; es wird dann trotzdem weiter verdeutlicht. Man formt hier keine feingliedrigen Muster wie in den Musicals von Busby Berkeley. Und doch ist da mehr als nur Willkür, eine Ordnung im Chaos. In seinem Aufsatz „Das Ornament der Masse“ schrieb der Filmkritiker Siegfried Kracauer vom „Strom des organischen Lebens“, der sich „von den schicksalhaft verbundenen Gruppen zu ihren Ornamenten“ wälzt, „die als magischer Zwang erscheinen und so mit Bedeutung belastet sind, daß sie sich zu reinen Liniengefügen nicht verdünnen lassen.“ Im frühen 20. Jahrhundert analysierte er Unterhaltung mit Menschenmassen für Massenmenschen: „Der Regelmäßigkeit ihrer Muster jubelt die durch die Tribünen gegliederte Menge zu.“
Permanente Eskalation
Lijo Jose Pellissery erzählt vom modernen Menschen als Schwarm, als Ansammlung atomisierter Einzelner. Ohne zivilisierende Agenda drängen sie trotzdem aus ihrem reinen Egoismus heraus, auf dasselbe Ziel hin – und damit ihrem Untergang entgegen. Sie sind noch im Beisammensein getrennt, verlieren sich nicht an die Masse, sondern an ihr Ego. Gerade in der letzten halben Stunde des Films klingt immer wieder William Goldings „Herr der Fliegen“ an, eine Jagd, die sich zum primordialen Blutdurst aufschwingt oder besser: in ihn hinabstürzt.
In seiner permanenten Eskalation, durch die mal grimmigen, mal slapstickhaften Actionsequenzen ist „Jallikattu - Zorn der Bestien“ ungemein unterhaltsam. Doch genauso wie die Massenszenen bleiben jene Momente in Erinnerung, in denen die Kamera für einige Sekunden verharrt, nachdem alle Menschen das Bild verlassen haben. Das Ende von Antonionis „L'eclisse“ als Miniatur, als quasiapokalyptische Leerstelle. Die tobende Menge, die ewig wächst, bis sie sich schließlich in ihr Gegenteil verkehrt.