Wir (2020)
Dokumentarfilm | Frankreich 2020 | 113 Minuten
Regie: Alice Diop
Filmdaten
- Originaltitel
- NOUS
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2020
- Produktionsfirma
- Athénaïse/Arte France Cinéma
- Regie
- Alice Diop
- Buch
- Alice Diop
- Kamera
- Sarah Blum · Sylvain Verdet · Clément Alline
- Schnitt
- Amrita David
- Länge
- 113 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
Mit der Schnellbahnlinie RER B reist die afro-französische Filmemacherin Alice Diop quer durch Paris und verbindet Gesichter und Geschichten mit Erinnerungen an ihre eigene Familiengeschichte.
„Als meine Mutter den ersten Zug nahm, schlief ich noch tief“, erinnert sich die afro-französische Dokumentaristin Alice Diop in „We“. Die Mutter ging früh aus dem Haus, sie arbeitete als Putzfrau. Auf alten Videobändern sucht Diop nach Spuren der Frau, die vor 25 Jahren starb, doch ihre Präsenz auf den Bildern ist flüchtig – „Sie ist immer eine Silhouette am Rande des Bildes, bereit zu verschwinden“.
Alice Diop, deren Eltern in den 1960er-Jahren als Gastarbeiter aus Senegal nach Frankreich kamen, verbindet in ihrem filmischen Essay Momente ihrer eigenen Familiengeschichte mit Beobachtungen von Menschen, denen sie auf ihrer Reise mit der Schnellbahn RER B in die Vorstädte von Paris begegnet. Die Bahnlinie ist mehr als eine viel befahrene Strecke, die quer durch Paris und seine Außenbezirke verläuft und dabei unterschiedlichste Topografien durchquert: von Waldgebieten bis hin zu urbanen und industriellen Zonen. Für die Geschichte der Migration in Frankreich hat die RER B eine geradezu kartografische Funktion.
Auf der Suche nach dem kollektiven „Wir“
Die ersten Bilder des Films zeigen Schienen, die sich an den Verkehrsknotenpunkten zu einem Netz verbinden. Wie der Filmtitel andeutet, sucht auch „We“ das Verbindende, obwohl durchaus auch die gesellschaftlichen und kulturellen Brüche sichtbar werden. Eine absurde kirchliche Zeremonie im Gedenken an König Ludwig XVI., in der der monarchischen Ordnung buchstäblich hinterhergeweint wird, findet Diop auf ihrer Route ebenso wie aus Afrika eingewanderte Arbeiter, die auf einem Schrottplatz Autos ausweiden und von den weggeworfenen Resten der Gesellschaft leben. Bei allen Machtasymmetrien und Diskriminierungen geht es Diop jedoch nicht vordergründig um das Aufzeigen und Ausstellen krasser Kontraste – ganz unpolemisch fragt sie nach dem gesellschaftlichen Kollektiv, dem Wir.
„We“ fügt Figuren, Orte und Handlungen, neues und altes Material, zu einem patchworkartigen Gebilde zusammen. Arbeit spielt in „We“ eine zentrale Rolle; sie bildet auch eine Gegenerzählung zu den (gerade auch im Kino) verbreiteten Klischees der Banlieue als einem Schauplatz der Armut, Verwahrlosung und Kriminalität. Diops Vater erinnert sich in Aufnahmen, die für den ersten Film seiner Tochter entstanden, wie er 1966 über Paris nach Marseille kam. Er erzählt von seinen ersten Jobs als Anstreicher, Lager- und Fabrikarbeiter – Arbeit sei immer da gewesen, bis zur Pension. Er hält an seiner positiven Einwanderererfahrung fest.
Mehr als Silhouetten
„Sie sind gemein zu uns, wir mögen das nicht. Ansonsten geht es okay“, erzählt dagegen ein Mann, als seine Mutter aus Mali anruft. Er war fast 20 Jahre nicht mehr in seiner alten Heimat. Viel Zeit widmet der Film einer Altenpflegerin. Ihre Besuche gewähren Einblick in verschiedene Wohnungen und Milieus, die Kamera ist eher dabei als extrem aufmerksam, der Blick ist diskret und zurückgenommen. Die Pflegerin verabreicht Medikamente, sie ist aber auch Gesprächspartnerin der alleinlebenden Alten. Einmal klingeln Leute aus dem Haus, ihre bettlägerige Nachbarin habe die Nacht wieder an die Wände geschlagen und nach Hilfe gerufen. Ein anderer Patient hat gerade seine Frau verloren und erzählt, dass sie ihm wie ein Schatten erschienen sei.
„We“ versucht das Flüchtige in Bilder zu fassen, die mehr sind als eine „Silhouette am Rande des Bildes“. Diops Projekt ist eines der Alltagskonservierung und der Erinnerung. In einem langen Gespräch mit Pierre Bergounioux, der sich in seinen philosophischen Texten immer wieder mit Fragen des Ursprungs und der Entwurzelung befasst hat, erzählt Diop von der Bedeutung des französischen Autors François Maspero für ihr dokumentarisches Werk. Ihm ist der Film gewidmet. Sein Buch „Les Passagers du Roissy Express“ habe sie gelehrt zu sehen und zu lieben, was vor ihren Augen war.