Blinden Schrittes

Dokumentarfilm | Frankreich/Deutschland 2021 | 110 Minuten

Regie: Christophe Cognet

Der französische Dokumentarist Christophe Cognet versammelt die wenigen von Gefangenen heimlich aufgenommenen Fotografien aus den NS-Konzentrations- und Vernichtungslagern. Neben den vier überlieferten Bildern aus Auschwitz, welche die Ermordung in den Gaskammern bezeugen, umfassen sie auch Motive aus dem Lageralltag und gegenseitig aufgenommene Porträts von Häftlingen und Opfern medizinischer Versuche. Cognet überblendet die Zeiten, indem er durch auf Glasplatten kopierte Abzüge die Orte der Entstehung filmt. In der Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit bildet sich ein sensibles Wissen, das die Spuren der Aufnahmen nachvollzieht und den Blick für Widerstand und Würde der Fotografen und Porträtierten öffnet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
À PAS AVEUGLES
Produktionsland
Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
L'atelier documentaire/Oval Media
Regie
Christophe Cognet
Buch
Christophe Cognet
Kamera
Céline Bozon
Schnitt
Catherine Zins
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm auf den Spuren der wenigen Fotografien, die Gefangene in den NS-Konzentrations- und Vernichtungslagern unter Lebensgefahr aufnahmen; die Zusammenhänge ihrer Entstehung werden dabei einer sorgfältigen künstlerischen Rekonstruktion unterzogen.

Diskussion

Unablässig rauscht der Regen durch Baumkronen, die sich sanft im Wind wiegen. Umgeben von sattgrünen Gräsern sammelt sich das Wasser am Boden in kleinen Teichen. Ein Panorama der Ruhe und des Lebens, doch hinter den Baumstämmen werden Zaunpfähle erkennbar. Immer mehr nähert sich die Kamera der aufgewühlten Wasseroberfläche der Tümpel, bis sich eine beklemmend lange Einstellung auf eine grenzenlose Sintflut eröffnet.

Nach einem Schwarzbild ist der Regen vorbei. Aus der Nähe lässt der Anblick der gebogenen Betonpfähle den Ort nicht mehr missverstehen. Vor dem umzäunten Konzentrationslager, dessen Ruinen sich im Hintergrund erstrecken, haben sich durch die Sonne jetzt Mulden aufgetan, wo vorher kleine Teiche waren. Summende Insekten begleiten den Schritt des Kameramanns über den sumpfigen Grund. Das Bild schwankt, taxiert die Vegetation am Boden. Wasserpflanzen ragen aus den verbliebenen Lachen. Am Rande dieser unheimlichen Biotope haben sich kleine weiße Steine angesammelt, auf die der Holocaust-Forscher Tal Bruttmann mit leiser Stimme hinweist.

Es sind Fragmente zerstörter Knochen von Ermordeten, die letzten sterblichen Überreste menschlicher Körper, die in den Krematorien dem Feuer widerstanden und von den Nationalsozialisten zerschlagen und verstreut wurden. Beinahe ungläubig fragt der französische Regisseur Christophe Cognet nach, ob unter den Unmengen an weißen Kieseln keine echten Steine seien. Doch was wie ein gewöhnliches Flussufer aussieht, ist eine Grabstätte, die der Regen an die Oberfläche gespült hat. Die Knochenfragmente finden sich überall im Boden um die Lager, erklärt Bruttmann, während er mit großer Sorgfalt eines von ihnen aufhebt und in die Nähe der Kamera hält. Ein Boden, auf dem die Besucher blinden Schrittes gehen.

Bilder trotz allem

Wie lässt sich die Shoah für die kommenden Generationen mitteilbar machen, wenn bald die letzten Zeugen und Überlebenden des Holocaust nicht mehr da sind, um unmittelbar Zeugnis zu geben? Kann es ein Andenken geben, das sich nicht zugleich auch dem Zeugnis der Vernichtung aussetzt, wie es die Konzentrationslager darstellen? Christophe Cognet setzt eine archäologische Arbeit fort, die der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman unter dem Plädoyer „Bilder trotz allem“ begonnen hat. Anlässlich der Fotoausstellung „Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis (1933-1999)“, die im Jahr 2001 in Paris und Winterthur gezeigt wurde, trug Didi-Huberman einen wegweisenden Aufsatz bei. In der erweiterten und 2007 auch in deutscher Sprache erschienen Untersuchung von vier heimlich aufgenommenen Fotografien aus Auschwitz-Birkenau setzt er sich dafür ein, diese weder als Ikonen des Schreckens zu mystifizieren, noch als historische Dokumente mit bloßem Informationsgehalt zu lesen. Beides brächte eine Abwehr gegenüber der Realität der Shoah zum Ausdruck, die der Zeugenschaft der Fotografien gegenüber blind bliebe.

Noch immer gehe es darum, die äußerst fragile Zeitstruktur der Fotos zum Vorschein zu bringen, schreibt Didi-Huberman, und somit die Phänomenologie der Bilder erfahrbar zu machen. Welcher Entstehungsprozess, welche körperliche Aktion führte zu den Aufnahmen aus den Lagern? Und wie lässt sich ihre Geste des Widerstands gegen die Auslöschung für die Betrachter erfahrbar machen?

Überlebenskünste

Christophe Cognet greift diesen Appell und die mit ihm verbundenen Fragen Didi-Hubermans sehr direkt auf. In einem Forschungsprozess, der sich mittlerweile über zwei Jahrzehnte erstreckt, hat er die Spuren von Bildern rekonstruiert, die unter extremen Bedingungen von Inhaftierten heimlich in den Lagern angefertigt wurden. Zunächst trug der Regisseur Zeichnungen und Bilder von Deportierten zusammen und machte sie das erste Mal in gesammelter Form der Öffentlichkeit zugänglich.

Daraus entstanden drei künstlerische Dokumentarfilme, die sich diesen Zeugnissen auf szenische Weise nähern: „L’atelier de Boris“ (2004), ein Porträt des Malers und KZ-Überlebenden Boris Taslitzky, „Quand nos yeux sont fermés - L’art clandestin à Buchenwald“ (2006), eine essayistische Auslotung der Möglichkeiten von Kunst im Angesicht der eigenen Auslöschung und schließlich „Parce que j’étais peintre - L’art rescapé des camps nazis“ (2013). Es existieren an die 30.000 Bilder in Archiven, gelagert in sieben Ländern. In den Filmen von Cognet gelangen sie das erste Mal in einen umfassenden Dialog mit vier überlebenden Künstlern und den historischen Orten, an denen sie entstanden sind.

Fotografien als Spuren des Entsetzlichen

Cognets Interesse für Bilder und die ihnen zugrunde liegenden Konstellationen setzte sich in der Erforschung von Fotografien aus den Lagern fort. Die „negative Epiphanie“, von der die Schriftstellerin Susan Sontag in ihrem berühmten Essay „Über Fotografie“ spricht, resultierte aus dem Anblick der von Alliierten gemachten Aufnahmen aus Bergen-Belsen und Dachau. Sie beschreibt sie als Bilder, deren Grauen so entsetzlich sei, dass sie den Betrachter abstumpfen ließen.

Während es viele solcher Fotografien gibt, die nach der Befreiung der Lager entstanden sind, existieren nur sehr wenige, die von den Inhaftierten selbst angefertigt wurden. Ihre Form der Zeugenschaft ist unendlich kostbar, da sie nicht nur die entsetzlichen Konsequenzen der Massenvernichtung dokumentieren, sondern manifester Widerstand gegen sie sind. Anders als die überdeutlichen Fotografien, von denen Sontag schreibt, bleiben sie oft fragmentarisch und rätselhaft.

Auf den Spuren der Pariser Fotoausstellung 2001, bei der auch Aufnahmen des tschechoslowakischen Widerstandskämpfers Rudolf Cisar und des Franzosen Georges Angéli ausgestellt wurden, forschte Cognet weiter in den europäischen Archiven. 2019 veröffentlichte er in dem über 400 Seiten langen Band „Éclats - Prises de vue clandestines des camps nazis“ die erste Gesamtschau der bislang bekannten Fotografien aus den Konzentrationslagern, die im Verborgenen aufgenommen wurden. Eingeleitet wird die Publikation von der Holocaust-Forscherin Annette Wieviorka. Damit ist ihm eine beeindruckende archäologische Studie gelungen, die den historischen Entstehungskontext der Bilder erstmals umfassend zusammenträgt und auch in einen philosophischen Kontext bringt.

Sensibles Wissen

Christophe Cognet hat mit seinem mehrstufigen Vorgehen eine neue Methode entwickelt. Auch in „À pas aveugles“ wird der Film selbst zum Medium historischer ebenso wie künstlerischer Forschung. Er denkt an den Stellen weiter, an denen die schriftlichen Erörterungen und die Spuren des Archivs an ihre Grenzen kommen. Was er ans Licht bringen kann, ist ein sensibles Wissen, das die Gesten und Zeugnisse des Widerstands gegen die unmenschliche Realität der Konzentrationslager für die Betrachter in Wahrnehmungen übersetzen kann.

Der tschechoslowakische Widerstandskämpfer Rudolf Cisar hat zwischen 1943 und 1944 im KZ Dachau rund 50 Fotografien angefertigt und sie gemeinsam mit den Todesmasken ermordeter Mithäftlinge aus dem Lager schmuggeln können. Zuvor waren sie von der SS in einem obszönen Museum für die Insassen ausgestellt worden; dank Cisar weiß die Nachwelt davon. Die menschliche Haut, bemerkt Cognet, habe denselben Status wie die fotografischen Negative. Sie sind materielle Zeugnisse der Gewalt und zugleich des Widerstands gegen sie. Die Filmkamera wird in „À pas aveugles“ zu einem technischen Auge; sie erschließt die Bilder durch Vergrößerungen und Bewegungen des Abtastens.

Digitalisierungen des Materials erlauben es, durch die Veränderung des Kontrasts Rauchwolken zu erkennen, die vom Betrieb eines Krematoriums zeugen. Auch Retouchierungen der Fotografien können in einer genauen Beobachtung rekonstruiert werden, ihre Gründe sind vielfältig.

Immer wieder sucht Cognet nach Bewegungen im Bild, die mehr von dem Moment der Entstehung verraten. Die Aufnahmen erscheinen dabei jedoch nie als bloße Objekte einer Untersuchung; der Film gibt ihnen den Raum, für sich zu wirken. In langen Einstellungen ohne Ton entsteht so die Möglichkeit des Gedenkens und des Zurückblickens der Bilder. Cognet gestaltet Übergänge an die Orte des Geschehens; das Schwarz-weiß der Fotografie wird plötzlich zum farbigen Filmbild einer rekonstruierten Baracke in der Gedenkstätte von Dachau. Von der Seite kommt eine Glasplatte in den Blick der Kamera, der Abzug des Originalbildes überlagert sich allmählich mit dem Ort seiner Entstehung.

Dialektische Bilder

Auf Stative gespannt oder in den Händen gehalten, treten die Fotografien der Inhaftierten, deren Haut aus Glas nun durchlässig für die Zeit geworden ist, in ein Verhältnis zur Gegenwart. Der Effekt dieser Überlagerung ist erstaunlich. Viele der Gebäude in den Lagern stehen noch oder sind wieder aufgebaut, ihre Umrisse fügen sich nahtlos in die schwarzen Konturen der Fotografien. „Hier ist es gewesen“, das wird über die identischen Abstände und Aufnahmewinkel deutlich.

Die Menschen jedoch, deren Präsenz damals für die Nachwelt festgehalten worden ist, leben nicht mehr. Sie persistieren nur im Bild, das immer wieder von Besuchergruppen durchlaufen wird. Tod und Leben, Spur und Bewegung treten zueinander in Spannung. Geschichte erscheint nicht mehr als kontinuierlicher Verlauf, sondern als ein Geschichtetes, das sprunghaft in der Jetzt-Zeit der filmischen Aufnahme zu einem neuen Bild wird, ein dialektisches, wie es Walter Benjamin in seinem geschichtsphilosophischen Denken beschrieben hat.

Die Rückgewinnung des eigenen Bildes

Neben den Fotografien, welche die Realität des Lageralltags dokumentieren, gibt es auch einige Porträts von Inhaftierten, gegenseitig voneinander aufgenommene Bilder, angefertigt in unbeobachteten Momenten. Eine der berührendsten Serien stammt von der Polin Joanna Szydlowska, die drei ihrer Kameradinnen neben einer Baracke fotografiert. Die Frauen entblößen ihre Körper unter den Mänteln und Röcken, um Wunden zu zeigen, die ihnen in Ravensbrück in medizinischen Experimenten zugefügt wurden. Eine von ihnen ist erst 16 Jahre alt, man hat ihr die Knochen verkürzt und sie danach wieder zusammengenäht, um das Fortschreiten der Infektion zu studieren. Sie lacht unter dem Blick ihrer Gefährtin mit unfassbarer Leichtigkeit. Eine andere sieht direkt in die Kamera, während sie ihr zerschundenes Bein präsentiert; ihr Gesicht fordert den zukünftigen Bildbetrachter mit stiller Anklage heraus.

Auch der Tscheche Wenzel Polak hat sich gemeinsam mit zwei Mithäftlingen im Lager Mittelbau-Dora fotografiert. Auf jedem Porträt stehen die Männer mit Stolz und Ernsthaftigkeit vor der Kamera, die Hände lässig in den Hosentaschen, den Blick nach vorne gerichtet. Eine Darstellung, die man aus einem Konzentrationslager nicht erwartet, weil man sie so kaum je auf einem Bild gesehen hat. Sie zeugt von einem wichtigen Moment der Rückgewinnung von Würde und einem Bewusstsein des Angesehen-Werdens, das Menschlichkeit und Beziehung für den kurzen Augenblick einer Aufnahme wiederherstellen kann. Auch von Rudolf Cisar existieren solche Porträts in ähnlichen Posen.

Fotografien übersetzen

Ausgangspunkt des filmischen Nachvollzugs sind in „À pas aveugles“ meist trianguläre Gespräche, die als eine Hommage an Claude Lanzmanns Vorgehen in „Shoah“ zu verstehen sind. Wenn der Regisseur Cognet mit den Historikern aus Deutschland, Polen oder Tschechien vor Ort in einen Austausch über die Fotografien tritt, dann ist immer eine Übersetzerin mit dabei. Manchmal verzögert sich dadurch der Dialog oder er überlagert sich, wenn zu schnell gesprochen wird. Es ist eine schöne Geste, die Fremdheit in der Sprache des Anderen zu erhalten, auch wenn die Gesprächssituation natürlich eine ganz andere ist als in Lanzmanns monumentalem Film. Hier trifft ein Regisseur mit seinem Team auf Wissenschaftler, die anfänglich irritiert wirken, was sie denn von den Künstlern über Geschichte lernen sollen. Doch Cognet zeigt im Hantieren mit den alten Fotoapparaten und der Rekonstruktion der Körperhaltung bei der Aufnahme, dass es ein künstlerisches Wissen gibt, das nicht mit dem der Historiker identisch ist, sondern im Dialog mit ihm neue Erkenntnisse schaffen kann.

Auch die Brennweite und der Einfallswinkel des Lichts, die Bewegungsunschärfe und die Perspektive erzählen eine eigene, bislang ungehörte Geschichte. Oft haben die Fotografen ihre Bilder mehr mit ihrem Körper aufgenommen als mit ihren Augen, da sie den Apparat versteckt halten mussten, nicht durchs Visier schauen konnten. In der Unmöglichkeit zu fokussieren, gingen sie im Moment des Auslösens blinden Schrittes.

Der Ort und das Bild

Sehen und Wissen seien nicht zu trennen, erklärte Lanzmann 1985 in einem Gespräch mit den „Cahiers du Cinéma“. Nach Auschwitz zu fahren, ohne etwas über die Geschichte des Lagers zu wissen, macht ein Verstehen genauso unmöglich wie ein historisches Studium ohne die Begegnung mit dem Ort des Geschehens. Daher sei „Shoah“ ein erdnaher Film geworden, so Lanzmann, der eines Topografen oder Geografen von bis zur Unkenntlichkeit entstellten Orten. Entscheidend sei das Wort und die Stimme der Überlebenden, manchmal auch der Täter und Zuschauer, wenn sie in Beziehung zu der Landschaft treten. In „À pas aveugles“ sind Verlautbarungen zu den Bildern als Kommentare auf Schwarzbild in den Film eingewoben, den sie immer wieder lautlos punktieren. Die Schrift wird zur Spur des Gesprochenen. Während Lanzmann seinen Film zunächst nur „Der Ort und das Wort“ genannt hat und auf die Verwendung von Archivmaterial grundsätzlich verzichtete, greift Christoph Cognet seine Methode durchaus auf, auch wenn nun die Fotografien der Inhaftierten an die Stelle des lebendigen Zeugnisses treten.

Diese Aufnahmen sind gerade keine „Bilder ohne Vorstellungsvermögen“, wie Lanzmann in Bezug auf andere Archivaufnahmen sagte. Sie können ihre Kraft entfalten, wenn sie an den Ort des Geschehens zurückkehren und in eine wortlose Konstellation zu ihm eintreten, die in der Sprache des Films vernehmbar wird. Ihre Präsenz in Gegenwart von Vogelgesang, Blättern im Wind und Schritten im Kiesbett, von entferntem Fluglärm oder dem sanften Rauschen des Regens schafft eine schmerzhafte Gleichzeitigkeit.

Die Ökologien des Alltags, die uns im Leben halten, trösten und stabilisieren, treffen auf die Gewalt von Menschen, die anderen systematisch den Tod gebracht haben. Die langen Schatten der Sommersonne auf den Bildern vor dem Krematorium V begreifen wir auf einmal nicht mehr als ferne historische Katastrophe, sondern als grausamen Teil einer andauernden Wirklichkeit.

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