Veränderung, sagt Thalia Haupt, führe nicht immer zum Besseren, sondern sei manchmal auch eine Verschlechterung. Grundsätzlich aber sei Veränderung etwas Gutes. Denn ohne Veränderung würde man immer Kind bleiben. Man würde nie erfahren, wie es sei, erwachsen zu sein, zu arbeiten, Mutter und Vater zu werden. Und man könnte auch nicht sterben, und das wäre bedauerlich. Denn der Tod, würden viele Leute behaupten, sei etwas Schönes. Und wenn man nicht sterben könne, würde man dieses Schöne nie erleben.
Thalia ist im Moment dieser Aussage zehn oder elf Jahre alt und besucht die vierte Klasse der Primarschule. Sie ist die jüngste Tochter des Schweizer Filmemachers Stefan Haupt, ihre Aussage findet sich in der zweiten Hälfte von „Zürcher Tagebuch“. Sie ist die jüngste Person, die Haupt in seinem dokumentarischen Essayfilm zu Worte kommen lässt, und die einzige, die darin im Jahresrhythmus immer wieder auftaucht. Sie markiert in diesem Film, in dem sich Haupt dem Mäandern seiner Gedanken überlässt, so etwas wie einen kleinen roten Faden.
Eine zärtliche Liebeserklärung an Zürich
„Zürcher Tagebuch“ baut, wie der Titel andeutet, auf des Filmemachers tagebuchartigen Notizen zum Weltgeschehen, zu Ereignissen in seinem näheren und weiteren Umfeld und seinen Gedanken auf. Es ist Stefan Haupts bisher persönlichster und zugleich universellster Film. Es ist zudem eine zärtliche kleine Liebeserklärung auch an die Stadt Zürich, in der Haupt 1961 geboren wurde, aufgewachsen ist, zur Schule ging, sich ausbilden ließ, eine Familie gründete und bis heute lebt und arbeitet.
Stefan Haupt hat sich mit seiner Heimatstadt, ihrer Geschichte und der Befindlichkeit ihrer Bewohner bereits in früheren Film auseinandergesetzt. So etwa im 2001 entstandenen „Utopia Blues“, in dem er das wilde Rebellieren und die fantastischen Träume eines psychotischen Jugendlichen thematisiert. In der Dokufiktion „Der Kreis“, in der er 2014 vor dem Hintergrund des Niedergangs der weit über Zürich hinaus strahlenden Schwulenorganisation und -zeitschrift gleichen Namens die Liebesgeschichte zweier Männer erzählt. In seinem historischen Spielfilm um die letzten Jahre und den Tod des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli („Zwingli“, 2019). Und nicht zuletzt im Dokumentarfilm „Downtown Switzerland“, in dem er zusammen mit Christian Davi, Kaspar Kasics und Fredi M. Murer 2004 ein Porträt der Stadt Zürich als Wirtschafts- und Finanzmetropole entwirft. Dabei hat sich Stefan Haupt in all seinen Filmen als ausnehmend sorgfältiger Beobachter und reflektierter Erzähler erwiesen. Als solcher entpuppt er sich auch in „Zürcher Tagebuch“, wo er in freier Assoziation und einer oft experimentellen Bildsprache weltpolitische, universelle, aber auch private Themen aufgreift, die ihn vom Januar 2016 bis im März 2020 beschäftigen.
Er tut es im persönlichen Nachdenken und im Dialog mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten und einigen prominenten Personen. Die Auszüge aus seinen Tagebüchern werden von Hanspeter Müller-Drossaart aus dem Off in den Film eingelesen. Sie bilden den narrativen Rahmen des Films, in den sich die Aussagen der anderen Personen als Reflexion auf des Regisseurs Gedanken einblenden.
Erinnerung für zwei Sekunden
„Was liegt in der Luft?“, fragt sich Haupt und: „Wohin geht die Reise?“ Auch: „Ab wann sind die anderen, die ich nicht kenne, nur noch Fremde, um die man sich kümmern muss, nicht kümmern kann?“ Dazwischen spricht er von der „ungeheuerlichen Gleichzeitigkeit des Seins“, vom „unbekannten Glück des Vaterwerdens“. Und er wundert sich über neue Worte, wie „Dystopie“ und „Dysphorie“, die anstelle von Utopie und Euphorie den gegenwärtigen Diskurs bestimmen. Derweil ihm seine jüngste Tochter erklärt, dass die Fische im Aquarium sich nur gerade zwei Sekunden lang an etwas erinnern und ihnen deswegen alles immer neu erscheint, staunt Haupt über die Eigenwilligkeit der Zeitwahrnehmung, in der sich einzelne Ereignisse wie eine Ziehharmonika ausdehnen, aber unmittelbar auch wieder in sich zusammenziehen.
Das philosophierende Nachdenken über das Weltgeschehen, über Themen wie Tod, Zeit und menschliche Befindlichkeit sowie Zukunftsvisionen hat Haupt seinen vier Kindern mit ins Leben gegeben. Nicht nur Thalia, auch ihre älteren Schwestern Symi und Melina tauchen in seinem Film auf. Und Alexis, Haupts Ältester, der im Film nicht im Bild erscheint, hält seinem Vater unerschrocken den Spiegel vor, wenn er ihm erklärt, dass „weiße Männer ab 50 das Sagen haben“ und Haupt somit zu denen gehöre, die das Weltgeschehen bestimmen. „Tue ich das tatsächlich?“, fragt sich Haupt danach irritiert, und kommt zum Schluss, dass er höchstens ein bisschen mitbestimme.
Vom Sterben und Geborenwerden
„Zürcher Tagebuch“ folgt lose der Chronologie der Zeit. Haupts Auseinandersetzung mit seinen Kindern steht diejenige mit seinen betagten, ihren Lebensabend in einem Heim verbringenden Eltern gegenüber, die sich nach Jahrzehnten des Zusammenseins auf den Moment vorbereiten, in dem vermutlich einer von ihnen plötzlich allein dasteht. Sie haben für diesen Fall ein kleines Regiebuch vorbereitet, in dem fein säuberlich festgehalten ist, was in welcher Reihenfolge zu tun ist. So wie das Sterben hat in „Zürcher Tagebuch“ auch das Geborenwerden seinen Platz – es gehört zu den wenigen Momenten, in denen dieser der Auseinandersetzung mit der aktuellen Gegenwart verpflichtete Film in kurzen Rückblenden persönliche Erinnerungen wach werden lässt.
Des Weiteren anzutreffen sind in Haupts Film: ein junger Philosophiestudent. Ein afghanischer Flüchtling, der auf verschlungenen Wegen in die Schweiz fand, nun in Zürich lebt und arbeitet und seine Familie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Eine Journalistin, die eindrücklich ihren morgendlichen Besuch in einem französischen Flüchtlingslager schildert und ein IT-Spezialist, der darüber nachsinnt, wie man Daten sicher speichern kann. Auch der in Berlin wohnhafte Schweizer Diplomat Tim Guldimann, der von außen auf seine Heimatstadt Zürich blickt, und die sozialdemokratische Nationalrätin Jacqueline Badran, die in dem 2020 fertiggestellten Film voraussehend vor dem warnt, was in Zürich derzeit akut von sich reden macht: Wohnungsmangel und unkontrolliert in selbst für den Mittelstand unbezahlbare Höhen schießende Mietzinsen.
Unablässiger Bilderstrom
Die persönlichen Begegnungen mit und Statements dieser Personen fügen sich in „Zürcher Tagebuch“ wie kleine Inseln ein in einen unablässigen Bilderstrom. In eine Art endlose filmische Fahrt durch öffentliche Räume der Stadt. Durch Straßen und Gassen, über Plätze, Parks und Friedhöfe, aber auch entlang der Gleise, die die verschiedenen Quartiere miteinander und die Innenstadt mit den Ballungsgebieten verbinden. Oft sind diese Räume nachtdunkel und menschenleer, manchmal taghell belichtet und überbordend mit Menschen gefüllt: Pendlern am Hauptbahnhof, Passanten in der Innenstadt, aufgeheiterten Besuchern einer der jährlich wiederkehrenden Großveranstaltungen wie dem Sechseläuten im Frühling, der Streetparade und dem Zürifest im Sommer, dem Knabenschiessen im Herbst, der Silvesterparty.
Es sind flüchtige Eindrücke, die sich dem Zuschauer vermitteln, unterlegt von sphärischem Sound und da, wo das Treiben hektischer wird, hartem Technobeat. Die Bilder fügen in assoziativer Collage zusammen, was nicht unbedingt zusammengehört, in der dichtesten Passage des Films gleitet die Kamera im schwebenden Flug durch die Hallen und Treppen des sich mehrstöckig in die Erde grabenden Zürcher Hauptbahnhofs, derweil sich auf der Tonebene Stimmen überlagern, bis nur noch einzelne Worte erkennbar sind.
Und dann, nach knapp 100 Minuten, kommt „Zürcher Tagebuch“ mit den ersten Bildern aus der pandemiebedingt plötzlich zum Stillstand gezwungenen Stadt unverhofft zur Ruhe. Was für ein großer, großartig reflektierter und kluger, sogartig in Bann ziehender Film – der vieles aufgreift und vorwegnimmt, was drei Jahre nach seiner Entstehung und nach Ende der zweieinhalb Jahre dauernden Pandemie nach wie vor brandaktuell ist.