Dokumentarfilm | Schweiz 2021 | 80 Minuten

Regie: Alice Schmid

Die Schweizer Dokumentarfilmerin Alice Schmid wird durch ein Gemälde von Edvard Munch an ein Ereignis aus ihrer Jugend erinnert, das sie jahrzehntelang verdrängt hatte. Um sich dem Trauma zu stellen, geht sie auf eine radikal ehrliche und mutige Spurensuche, die aus der flirrenden Schönheit der Wüste von Südafrika zu den dumpfen Erinnerungen an eine von männlichem Begehren und grauenvollem jugendlichen Erschrecken geprägte Zeltnacht führt. Dabei gelingt es ihr, in der Reflexion des eigenen Lebens und Werks zu erfassen, wofür Missbrauchsopfer oft keine Worte finden. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BURNING MEMORIES
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Ciné A.S./SRF/SRG SSR
Regie
Alice Schmid
Buch
Alice Schmid
Kamera
Karin Slater · Aurelio Buchwalder · Kaleo La Belle
Musik
Alice Schmid
Schnitt
Anja Bombelli
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Die Schweizer Dokumentarfilmerin Alice Schmid begibt sich auf eine radikal ehrliche und mutige Spurensuche nach der Wahrheit über die Schrecken ihrer Kindheit und einen sexuellen Missbrauch als Jugendliche.

Diskussion

Die Filmemacherin Alice Schmid wandert mit Rollkoffer und Akkordeon durch die Wüste von Südafrika. Die Landschaft ist trocken, braun, gelb, weit, manchmal wird sie hügelig. Es gibt darin, hin und wieder, mal von näher, mal ferner fotografiert: Tiere. Vögel, Antilopen, Zebras, Pferde. Immer mal wieder, schwarz-blau schillernd, makro-nah fotografiert und überlebensgroß leinwandfüllend: eine Panzergrille. Anstoß zu dieser Reise gab ein Besuch in einem Museum in Oslo. Hier entdeckte Schmid einige Monate davor ein Gemälde von Edvard Munch. Es zeigt ein nacktes Mädchen, das auf dem Rand eines ungemachten Bettes sitzt. Der Schatten an der Wand dahinter ist riesig. Das Bild trägt den Titel „Pubertät“. Es ging Schmid nicht wieder aus dem Kopf und so ging sie ein paar Tage später erneut ins Museum. Und wie sie da saß, vor dem sitzenden Mädchen, überfiel sie plötzlich die Erinnerung an eine seit Jahrzehnten vergessene Nacht. An eine Nacht, zu deren Beginn sie 16-jährig ein Zelt betrat und von der sie im Film sagt, dass sie Stunden später das Zelt wieder verließ und ein Teil von ihr nicht wieder mit herausgekommen sei.

Vor dieser Nacht, erzählt Schmid später im Film, habe sie als Kind selbst Zelte gebastelt und in diesen stundenlang gespielt. Nach besagter Nacht aber hat sie nie wieder eines betreten. Sie hat nach dieser Nacht vorübergehend auch ihre Sprache verloren beziehungsweise geschwiegen. Keine Worte gefunden, für das Ungeheuerliche und Schreckliche, was ihr damals widerfuhr und das sie 50 Jahre später nun erneut umtreibt. Doch diesmal will sie, und darum geht es in „Burning Memories“, die Worte unbedingt finden, mit der sich dieses beschreiben lässt. Bis es so weit ist, nimmt sie sich vor, wird sie durch die südafrikanische Wüste wandern.

Ein schwindelerregend-gewagtes Konzept

Das ist in der Radikalität, mit der es ins intime Erleben seiner Regisseurin führt, ein schwindelerregend-gewagtes und fragiles filmisches Konzept und es hätte durchaus scheitern können. Doch Alice Schmid ist eine sehr starke und mutige Frau und im Umgang mit sich und in der Reflexion des eigenen Erlebens überaus besonnen. Afrika ist ihre „zweite Heimat“. In der Begegnung mit Flüchtlingskindern aus Afrika hat sie einige Monate nach besagter Zeltnacht während eines Belgien-Aufenthalts ihre Sprache wieder gefunden. In Afrika hat sie denn auch die meisten ihrer frühen Filme gedreht: „Burning Memories“ ist nicht nur die innerliche Reise einer reifen Frau zum Kind und Mädchen, das sie einst war, sondern auch eine Reise durch ihr gesamtes kreatives Schaffen: Alice Schmid, 1951 in einem Vorort von Luzern geboren, ist nicht nur Filmemacherin. Sie ist auch sehr musikalisch. Sie malt, zeichnet und schreibt. Täglich Tagebuch. Aber auch Drehvorlagen und Sachbücher, 2011 erschien ihr erster und bisher einziger Roman, Dreizehn ist meine Zahl.

Alice Schmids Bücher handeln, ebenso wie ihre Filme, fast ausschließlich von Kindern. Von Kindern, die Gewalt erlebten, aber auch von Kindern, die Gewalt leben. Ihre Filme tragen Titel wie „Briefe an Erwachsene“, „Einmal im Leben ins Kino“, „Ich habe getötet“. Die früheren sind in Afrika entstanden, spätere – wie Das Mädchen vom Änziloch und Die Kinder vom Napf – im Entlebuch, einer noch heute vor allem von der Landwirtschaft lebenden Bergregion in der Innerschweiz. Auch die neunjährige Lily in Schmids Roman lebt im Entlebuch. Sie ist ein mutiges Kind und wehrt sich mit allen Kräften gegen die Zumutungen der Erwachsenenwelt, die auf sie zukommen, und gegen die Gewalt und die Ungerechtigkeit, die sie in ihrer Familie erlebt.

Unerschrocken in die magische Welt von Afrika

Alice Schmid ist als Erwachsene überaus unerschrocken. Sie fand sich bei Dreharbeiten, etwa mit Kindersoldaten aus Liberia, diverse Male in lebensgefährlichen Situationen wieder, hat dabei aber, wie sie im Film erzählt, nie Angst empfunden. Sie lebt allein, reist allein; der Sangoma, ein südafrikanischer Wahrsager und Heiler, den sie in „Burning Memories“ aufsucht, sagt ihr als erstes denn auch, sie sei körperlich topfit. Gegen ihre anderen Probleme – die Schlaflosigkeit, die sie seit ihrer Kindheit kennt, und die Panikattacken, die sie auch beim Gang durch die Wüste manchmal erleidet – gibt er ihr ein paar hilfreiche Tipps.

Ansonsten ergeht der Sangoma sich in rätselhaften Metaphern, die Schmid nicht zu deuten weiß. Sie taucht zusammen mit ihrem Film tief ein in die mysteriöse und magische Welt von Afrika, deren Bewohner ihre seelischen und psychischen Probleme auch mithilfe von Ritualen zu lösen versuchen. Gleichzeitig bleibt „Burning Memories“ dieser übrigens sehr schön für die Leinwand fotografierten Welt auch sehr fern. Was unter anderem an der darin vorkommenden, immer wieder auf die Schweiz verweisende Musik liegt, von Schmid selber gespielten Akkordeon-Stücke, in denen Volksmusikalisches aus Helvetien ebenso anklingt wie ein Hauch von Gipsy-Jazz, ein Lied von einem Schweizer Kinderchor, einmal ein Jodelstück.

Das Akkordeon verbindet Schmid mit ihrem Vater. Er hat ihr das Instrument zum neunten Geburtstag geschenkt. Die beiden haben zusammen musiziert; es waren für Schmid glückliche Stunden. Mehr allerdings verbindet sie nicht mit diesem Mann, der in ihrer Erzählung vor allem durch sein Schweigen auffällt. Auch was den Umgang ihrer Mutter mit dem mittleren ihrer fünf Kinder angeht; Alice Schmid hat zwei ältere und zwei jüngere Geschwister.

Schläge und Beten gegen ein „schwarzes Herz“

Täglich, sagt Alice Schmid, habe die Mutter sie geschlagen, es habe dies auch etwas Rituelles gehabt. Sie hat die Schläge jeweils gezählt, bei dreizehn sei es meistens fertig gewesen. Einmal hat eine Lehrerin, nachdem sie Alices Rücken gesehen hatte, mit der Mutter geredet. Weiter geschehen ist nichts. Seit sie zählen kann, sagt Alice, zähle sie sich in den Schlaf. Auch die Monate, Wochen, Tage, bis sie von zuhause ausziehen konnte, hat Alice Schmid damals gezählt. Sechzehn war sie, als sie in der Sekundarschule als einziges Mädchen der Klasse ausgewählt wurde, an einem Sportschwimmlager teilzunehmen. Das Jahr darauf fuhr sie, um Französisch zu lernen, als Au Pair nicht in die Westschweiz, sondern nach Belgien, wo ihr eine Ordensschwester beibrachte, dass man Kinder nicht schlägt.

Mehr als Mutters Schläge aber schmerzt Alice das ihr von dieser angedichtete „schwarze Herz“, gegen das man jeden Tag anbeten musste. Schritt für Schritt, Satz für Satz, Bild für Bild nähert sich „Burning Memories“ seiner Klimax. Dem Moment, in dem sich der Filmemacherin aus ihren sie immer aufs Neue aufwühlenden Gefühlen und Schrecken evozierenden Erinnerungsfetzen ein Weg eröffnet, in eine Zeit danach. Eine Zeit, in der Verdrängen und Vergessen als Strategie nicht mehr überlebenswichtig sind. In welcher vor Jahrzehnte gemachte Erfahrungen bewusst verarbeitet und abgelegt sind. Einer Zeit, in der Schmid wieder Schlaf findet und es ihr möglich wird, ihrer Mutter in einem Brief ihr plötzliches Verstummen vor über 50 Jahren zu erklären; Alice Schmids Vater ist vor Jahren gestorben.

Die Erinnerung ist so präsent wie die Auseinandersetzung

Alice Schmid verbindet in „Burning Memories“ ihre Wanderung durch Südafrika mit Erinnerungen und Fotos aus ihren Kinder- und Jugendjahren. Ausschnitte ihrer Filme stehen neben Passagen aus ihren Tagebüchern, die Erinnerung an damals ist so präsent wie das Geschehen und die Auseinandersetzung mit sich selbst in der Gegenwart. „Burning Memories“ ist ein radikal ehrlicher, mutiger und berührender Film. Ein ermutigender Film auch, der zeigt, wie sich in reflektierender Besonnenheit allmählich Bilder und Worte einstellen, mithilfe derer sich die lähmenden Schatten beschreiben lassen, die man als Opfer sexuellen Missbrauchs loswerden muss, um wieder bei sich anzulangen.

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