Bereits die Ankunft in Arkansas empfindet Monica Yi (Ye-Ri Han) als desillusionierend. Sie betritt kein neues Haus, zu dem eine Treppe hinaufführen oder eine Veranda auf sie warten würde; vielmehr steht sie vor einem abgeschieden in die Landschaft platzierten Wohnwagen, zu dessen Eingangstüre sie auch noch hochklettern muss. Doch ihr Ehemann Jacob (Steven Yeun) verfolgt große Pläne. Er will Farmer werden; deshalb hat er das Land gekauft und will koreanische Pflanzen für all die koreanischen Einwanderer anbauen.
Zur Finanzierung dieses Unterfangens führen die Yis zunächst das fort, was sie schon in Los Angeles viele Jahre lang gemacht haben: auf einer Hühnerfarm als „Kükensexer“ zu arbeiten, also männliche von weiblichen Küken zu trennen. Die männlichen Küken werden getötet, weil sie nicht weiter verwertbar sind.
Während die Mutter misstrauisch bleibt, sind die beiden Kinder Anne und David noch begeisterungsfähig. Bei der Suche nach einem geeigneten Acker vermag der Vater seinen Sohn David richtiggehend mitzureißen. Doch die Betreuung der Kinder, vor allem die von David, der unter einem Herzfehler leidet, gestaltet sich schwierig. Die Lösung wird aus Korea eingeflogen: Monicas Mutter Soon-ja (Yuh-Jung Youn). Doch die interpretiert ihre Rolle als Großmutter anders als die beiden Kinder. Sie legt keinen großen Wert darauf, eine weibliche Rolle zu erfüllen, sondern sie versteht sich eher als Mittlerin zwischen den Kulturen. Sie führt die Kinder in die koreanischen Gebräuche ein und entwickelt sich gleichzeitig zu einem ebenso begeisterten wie irritierten Fan von Wrestling-Shows im Fernsehen.
Eine neue Siedlergeschichte
Dem Filmemacher Lee Isaac Chung gelingt mit „Minari“ nicht weniger als eine Neuformulierung der nordamerikanischen Siedlergeschichte im Zeichen von Interkulturalität und neuen gesellschaftlichen Dynamiken. Hinzu kommt, dass der Film zur Regierungszeit von Ronald Reagan spielt, der als ehemaliger Hollywood-Darsteller die filmische Illusion vom Wilden Westen in die Realpolitik katapultierte. Bis zur Großen Depression verliefen die US-amerikanischen Migrationsbewegungen von Ost nach West; Kalifornien galt als das gelobte Land, nicht zuletzt wegen seiner Goldvorkommen. In „Minari“ sind es hingegen Immigranten aus Korea, die von der kalifornischen Metropole Los Angeles aus Richtung Osten abwandern – nicht um nach Gold zu graben, sondern genau aus dem anderen Grund, der viele zur Migration bewog: die durch Naturkatastrophen viel zu riskante Landwirtschaft vor allem im Mittleren Westen, an den das südlich gelegene Arkansas anschließt.
Wenn Jacob Yi nach der Ankunft in den Boden der Wiese greift und die fruchtbare Erde in der Hand hält, um seiner Frau zu demonstrieren, welche Möglichkeiten sich ihnen hier bieten, ist das Western-Genre zum Greifen nah. Das Breitwandformat benutzen Chung und sein Kameramann Lachlan Milne indes nicht für pathetische Bilder von der Erschließung des Landes. Eine Wildnis gibt es hier ohnehin nicht mehr. Wo jetzt der einsame Wohnwagen parkt, wird einige Jahre später vielleicht ein Trailer-Park entstehen. Statt der Weite der Landschaft betonen die Bilder die Enge des Wohnwagens und das Stück Ackerland, das Jacob bestellen will. Ehefrau Monica repräsentiert hingegen eine Frauenfigur wie aus den Western. Sie möchte Sicherheit und arbeitet am Familienzusammenhalt. Allerdings ist sie sehr selbstständig und selbstsicher, was im Western-Genre allzu oft fehlte. Dem Pioniergeist ihres Mannes vermag sie wenig abzugewinnen. Jacobs Rede vom gelobten Land eignet in der Tat etwas Naives. Seine Überzeugung, dass der Wille Berge versetzen und koreanische Pflanzen zum Wachsen und Gedeihen bringen könne, wirkt in den 1980er-Jahren nicht mehr zeitgemäß, auch wenn er in einem Nachbarn (Will Patton) einen ebenso eifrigen wie in seinem religiösen Gebaren skurrilen Mitstreiter gewinnt.
Rassismus in Arkansas
„Warum ist dein Gesicht so platt?“, wird David nach der Kirche gefragt. Der andere Junge heißt Johnnie und ist etwas älter als David. Er stammt aus Familienverhältnissen, für die sich der Ausdruck „White Trash“ eingebürgert hat. Das bezieht sich auf die verarmte weiße Unterschicht, vor allem in den Südstaaten der USA. Mit diesem Stereotyp wird oft auch Rassismus in Verbindung gebracht. In den 1980er-Jahren war Arkansas allerdings eine weitestgehend demokratisch regierte Region. Bill Clinton war Gouverneur, bevor er 1992 Präsident wurde. Das muss aber nicht heißen, dass es deswegen keinen Rassismus gab. Er ist unterschwellig präsent. Das zeigt sich in Johnnies Artikulation von Fremdheit oder in einer Sequenz in der Kirche. Jacob hat Monica den Besuch der Kirche vorgeschlagen, damit sie andere Menschen kennenlernt. Dort herrscht zunächst aber betroffenes Schweigen. Erst als der Pastor die neue Familie aufzustehen bittet, kommt Leben in den Saal. Die Autorität hat gesprochen, die weiße Gemeinde klatscht den Neuen begrüßend zu. Es gibt weitere ähnliche Situationen, die den Eindruck erwecken, dass durchaus ein latenter Rassismus existiert, der ausbrechen kann, wenn bestimmte Schranken fallen.
Da die Inszenierung die filmischen Mittel ganz der Handlung unterordnet, erweckt der Film von Lee Isaac Chung den Eindruck, zwar in bester Tradition des US-amerikanischen Erzählkinos eine bewegende Geschichte zu erzählen, aber nur wenig Raum darüber hinaus zu lassen. Bewegend ist der Kampf zwischen Monica und Jacob, die nicht mehr zueinander zu finden scheinen, und die Auswirkungen auf die Kinder, vor allem auf David, der so gerne durch das hohe Gras läuft, dann aber ermahnt wird, wegen seiner Herzprobleme einen Gang zurückzuschalten. Auch das Verhältnis zwischen David und seiner Großmutter ist von subtiler emotionaler Kraft und Humor geprägt (Yuh-Jung Youn wurde für diese Rolle verdientermaßen mit Preisen überhäuft). Doch was „Minari“ über diese unbestreitbaren narrativen und inszenatorischen Qualitäten hinaus zu sagen hat, erschließt sich nicht an der Oberfläche. Das gilt auch für die ökologische Dimension.
Das Unkraut am Laufe des Baches
Die titelgebende Kräuterpflanze Minari (Oenanthe javanica, deutsch: Koreanische Petersilie) ist eine Wildpflanze und kommt in Japan, China, Indien, aber auch in Nordamerika vor. Soon-ja sät die Samen im Wald an einem Bachlauf aus. Die Minari-Pflanze gedeihe hier besonders gut, wie Unkraut, meint sie zu David, der seine Großmutter nach und nach liebgewinnt. Um eine invasive Art handelt es sich aber nicht; sie verdrängt keine anderen Pflanzen. Minari erinnert an den Matsutake-Pilz, den die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem Buch „Der Pilz am Ende der Welt“ (2015) bekannt gemacht hat. Matsutake gilt als Delikatesse. Er kann nicht kultiviert werden, ist besonders widerstandsfähig und wächst gut in Regionen, welche von den Menschen stark verändert wurde. Ernte und Handel mit Matsutake haben in Japan und in Nordamerika zu vielfältigen sozialen Verflechtungen geführt, in denen auch Migration eine wesentliche Rolle spielt.
Übertragen auf den Film ist es weniger die aufwändig betriebene (industrialisierte) Kultivierung der Landschaft, die glücklich macht. Die Pflanze Minari braucht keine künstliche Bewässerung wie das zu bestellende Feld. Ihr Lebenselixier bezieht sie aus dem Bach. Der Regisseur Lee Isaac Chung hat solche Erfahrungen in seiner Kindheit selbst gemacht, als er in jener Region aufwuchs, in der „Minari“ spielt. Er studierte angeblich Ökologie, bevor er mit dem Filmemachen begann. Diese Erfahrungen und sein autobiografischer Hintergrund haben womöglich zur Glaubwürdigkeit eines Films beigetragen, der auf höchstem Niveau unterhält und zugleich zum Nachdenken anregt.