England im Jahre 1657, während der Regentschaft von Oliver Cromwell, der zuvor die königliche Kavallerie mehrmals besiegt hatte und, nach der Hinrichtung Charles I., das Land mit puritanischer Strenge regierte. Deswegen, so erläutert eine kurze Schrifttafel, hätten sich einige Menschen radikal neuen Ideen und Untergrund-Religionen zugewandt. Vor diesem Hintergrund erzählt der neue Film von Thomas Clay („Soi Cowboy“) die Geschichte der Titelheldin Fanny Lye, die auf einem abgelegenen Bauernhof irgendwo im County Shropshire tagein, tagaus schuften muss. Ihre Klugheit und Neugier hat sie längst zu unterdrücken gelernt – ihr Mann John (Charles Dance), ein brutaler, streng puritanischer Ex-Soldat, fordert mit dem Rohrstock Disziplin ein, auch von seinem jungen Sohn Arthur. Bezeichnend das Bild, als sich die Familie zum sonntäglichen Kirchgang aufmacht: John Lye reitet auf einem Pferd, während Ehefrau und Sohn laufen müssen.
Schutzbedürftige oder subversive Elemente?
Zwischenzeitlich hat sich aus dem Off eine junge Erzählerin eingeschlichen, deren Identität sich erst einige Minuten später offenbaren wird. Ein nackter Mann und eine nackte Frau, offensichtlich geschlagen und verletzt, haben sich während der Abwesenheit der Familie in der Scheune versteckt. Nun bitten sie die Lyes um Schutz: Sie seien ausgeraubt worden und seien vor ihren Häschern auf der Flucht. Anstatt zur Polizei zu gehen, lässt John Thomas und Rebecca, so ihre Namen, auf dem Hof wohnen, nicht nur eine Nacht, sondern länger. Doch Gerüchte besagen, dass das Paar wegen obszöner Orgien und subversiver Äußerungen, die die körperliche Liebe über den Glauben erheben, von den Behörden gesucht wird. Thomas und Rebecca (die sich mittlerweile als Erzählerin entpuppt hat) beginnen ihre sinnliche Kampagne im Haushalt der Lyes. In Fanny scheinen sie eine bereitwillige Mitstreiterin gefunden zu haben.
Lange Zeit ist der Zuschauer im Unklaren darüber, in was für einem Film er sich hier befindet. Sicher ist „Die Erlösung der Fanny Lye“ ein Historiendrama über die englische Revolution im 17. Jahrhundert. Doch Thomas Clay streift dabei noch mehrere Genres: den Thriller, in dem das Heim einer Familie überfallen wird, den Western, in dem die Zivilisation noch fern scheint, den Katastrophenfilm, bei dem es ums nackte Überleben geht, den Horrorfilm, der einem in puncto Blut und Gewalt am Ende nichts erspart. Clays Film erinnert in dieser Mischung an Ben Wheatleys „A Field in England“ (2013), der in derselben Zeit spielte und ähnliche Themen anriss, aber auch Peter Strickland („The Duke of Burgundy“) kommt einem mit seiner Obsession für Macht und Unterwerfung in den Sinn. Die Spannung entsteht zunächst daraus, dass der Zuschauer über das Gesehene nicht sicher sein kann: den Bildern ist nicht zu trauen. Sind Rebecca und Thomas wirklich ausgeraubt worden? Waren sie wirklich Zeugen eines Massakers, das der sogenannte High Sheriff of the Council of the State (der übrigens in seiner bunten Verkleidung aussieht wie ein Clown) und sein Konstabler in einer Kneipe begangen haben sollen? Rebecca, die Off-Erzählerin, deutet vieles nur an oder macht auf mögliche Abzweigungen der Geschichte aufmerksam. Was wäre gewesen, fragt sie, wenn John den Konstabler sofort gerufen hätte, als er bei der Rückkehr vom Kirchgang Anzeichen für ungebetene Besucher bemerkte?
Langsam verschieben sich die Machtverhältnisse
In langen, ruhigen Einstellungen und eleganten Fahrten fängt die Kamera die sich langsam verschiebenden Machtverhältnisse zwischen Hausherrn und Eindringlingen ein. Wenn John gezwungen wird, anstelle seiner Frau Wasser aus dem Brunnen zu holen, obwohl er schwer verletzt ist, hat er seinen Status als Familienoberhaupt verloren. Im Folgenden nehmen die Diskussionen über puritanische Gottgläubigkeit und die Freuden körperlicher Liebe immer mehr Raum ein. Alle Hemmungen sollen Thomas zufolge fallen. Die Sinnlichkeit als Flucht vor der grausamen Wirklichkeit? Ein betörender Gedanke, der vor allem Fanny aus dem Gefängnis ihrer lieblosen Ehe befreit. Maxine Peake spielt sie als starke, kluge, selbstbewusste Frau, die keine Angst mehr hat: „Ihr könnt mir nichts antun, was ich nicht schon erlitten hätte,“ sagt sie am Schluss zu dem geckenhaften High Sheriff. Ein ungewöhnlicher Film ist so entstanden: beklemmend, unvorhersehbar, nicht einzuordnen, perfekt ausgestattet, exquisit fotografiert (man achte auf den Nebel auch bei Sonnenschein und die rostbraunen Farben) – und hervorragend gespielt.