Die Kamera schwebt fast schwerelos durch die Straßen der Stadt, gleitet an den eng aneinander geschmiegten Steinhäusern entlang, um sich dann in die Lüfte zu erheben und wie ein Vogel auf die Welt unter sich zu blicken. Es ist nicht zuletzt dank des wunderbaren CinemaScope-Formats ein freier und zugleich zärtlicher Blick, der Details ebenso zur Geltung kommen lässt wie das große Panorama: Nähe und Ferne. Das Städtchen, das von der Kamera erfasst wird, heißt Siculiana und liegt in der sizilianischen Provinz. Regisseur Luca Lucchesi, der mit „A black Jesus“ seinen ersten abendfüllenden Film gedreht hat, kennt es seit langem. Sein Vater ist hier aufgewachsen und hat die Legenden der Heimat schon früh an den Sohn weitergegeben. Eine jener Legenden interessiert Lucchesi besonders – und wie sie sich an Wirklichkeit reibt.
Sie lieben ein schwarzes Stück Holz
Der schwarze Jesus ist eine Statue in der örtlichen Kirche. Alljährlich am 3. Mai wird das Kruzifix auf den Schultern ausgewählter Männer durch die Straßen der Stadt getragen. Zu diesem Anlass versammeln sich die Einwohner an der Prozessionsstrecke, und mit ihnen Hunderte Gäste, darunter viele, die einst in der Stadt lebten, aber Siculiana seit langem verlassen haben, auf der Suche nach Arbeit und Brot. Wer kann, berührt den schwarzen Jesus mit einer sanften Handbewegung. Opfergaben werden ihm dargebracht, Wünsche und Bitten geflüstert. Eine Stadt im Gebetszustand.
Am Rand dieser Prozession stehen ein paar Bewohner des örtlichen Flüchtlingszentrums mit ihren Handys, auf denen sie das Geschehen festhalten. Die meisten der Geflüchteten kommen aus Afrika; Männer mit schwarzer Hautfarbe und einem bitteren Resümee: „Die Einheimischen lieben ein schwarzes Stück Holz, aber sie lieben keine Schwarzen aus Fleisch und Blut.“ Tatsächlich gibt es so gut wie keine Gespräche zwischen beiden Seiten. Die Sizilianer lehnen die Fremden ab; viele sind an der Küste gestrandet; man fürchtet, überrannt zu werden. Die Geflüchteten sehen keine Chance, daran etwas zu ändern. Das wird zum Thema des Films: warum Menschen, die sich als Christen begreifen, kaum in der Lage sind, auf andere Menschen, auf „Fremde“, zuzugehen. Und wie dieser Teufelskreis aus Ablehnung und Angst, Zweifel und Zorn durchbrochen werden könnte.
Lucchesi verzichtet auf herkömmliche Interviews. Er bevorzugt neben atmosphärischen Bildern die situative Beobachtung. Worüber reden die alten Frauen, wenn sie gemeinsam ihre Süßigkeiten backen? Stimmt die geheimnisvolle Saga, dass der schwarze Jesus früher weiß war und erst angesichts der Not der Menschen seine Farbe gewechselt hat? Welche Lebensregeln gibt der Lehrer, der den Geflüchteten die italienische Sprache beibringen soll, seinen Schützlingen mit auf den Weg? Warum spielen weiße und schwarze Männer auf getrennten Fußballfeldern? Welche Haltung nimmt der örtliche Priester ein? Und was denkt der Gemüsehändler, der mit Leiterwagen und ewig gleichem Singsang seine Ware an die Kunden zu bringen hofft? Aus den Worten und Gesprächen formt sich ein Zeit- und Gesellschaftsbild, das weit über das Städtchen Siculiana hinausreicht.
Wer sich nicht ändert, wird zu Stein
„A black Jesus“ ist kein analytischer Film. Er fängt Stimmungen ein, hat ein Gespür für stumme Blicke, lässt Sätze im Raum stehen, ohne sie durch einen Off-Kommentar zu bestätigen oder zu konterkarieren: „Wenn man sich nicht verändert, wird man zu Stein...“ Weiterdenken soll der Zuschauer selbst. Zum Beispiel, wenn brachliegende Äcker und Bauergehöfte gezeigt werden, auf denen Arbeit durchaus möglich wäre. Oder die Rede darauf kommt, dass in der Stadt Nachwuchs fehlt, aber ohne Kinder keine Zukunft denkbar ist. Einmal heißt es, dass fast jeder in seinem Leben schon ein Emigrant gewesen sei, und die Bibel ein Buch voller Flüchtlingsgeschichten wäre. Waren nicht Adam und Eva die ersten Vertriebenen? Wurden nicht Maria und Josef von Türen und Tischen abgewiesen? Würde die christliche Botschaft, auf die gegenwärtige Lebenspraxis angewandt, nicht einen anderen Umgang mit den Afrikanern in Siculiana nahehlegen? Oder setzt sich eher die Ansicht durch, die der ernüchterte Lehrer gegen Ende des Films resümiert: dass die italienische Regierung die Geflüchteten nur instrumentalisiere? Indem sie keine Chance zur Integration erhalten, werden sie zu „frischem Blut“ für Obdachlosigkeit, Kriminalität und dem organisierten Verbrechen, was fast zwangsläufig zur Schaffung eines Polizeistaats führe? Ist dies das übergeordnete, geheime Ziel der Flüchtlingspolitik?
Luca Lucchesi entwirft in „A black Jesus“ eine andere Möglichkeit. Eine Hoffnung, einen schönen Traum. Edward, ein 19-jähriger Geflüchteter aus Ghana, trägt an den Priester von Siculiana den Wunsch heran, selbst einmal den schwarzen Jesus während der Prozession auf den Schultern tragen zu dürfen. Am Ende sind es vier Geflüchtete, die gemeinsam mit weißen Männern das Kruzifix schultern. Zwar noch immer begleitet vom bösen Satz eines Einheimischen, als ihnen eine kleine Ungeschicklichkeit unterläuft: „Das sind Zulus, was hast du erwartet?“ Aber die dann doch in die Tradition einbezogen werden.
Die Realität schrumpft zum Handybild
Natürlich bleibt die Frage, ob das alles ohne Filmkamera genau so geschehen wäre? Wenn das Städtchen also nicht unter Beobachtung gestanden hätte. Aber es ist passiert, das Filmteam hat aktiv dazu beigetragen, wenigstens hier den Bann zu brechen.
Es geht dann, im Epilog, doch nicht gut aus. Gerade in dem Moment, als einige der Geflüchteten glauben, in der Stadt angekommen zu sein, werden sie aus Siculiana in ein anderes Lager verlegt. Der Lehrer, der ihnen mit Worten wie „Eure Neugier ist Euer Kapital, zerreißt die Ketten“ stets Mut gemacht hatte, überbringt die Nachricht. Auf den Gesichtern von Edward und den anderen spiegelt sich tiefe Enttäuschung. Das wird dann nicht mehr in malerischem CinemaScope gefilmt. Die Legende ist vorbei, die Realität zum Handybild verengt.